Also hatte er es falsch angefangen. Er hatte sie beleidigt, vielleicht verletzt, bestimmt enttäuscht. Wie sie die Vorstellung verabscheuen mußte, mit ihm verheiratet zu sein. Begriff sie denn nicht, daß er von sich aus ihr so etwas nie aufgezwungen hätte? Als der Gedanke sich in seinem Kopf bildete, kam er auch schon über seine Lippen. »Die Überseele hat uns füreinander bestimmt, und ich bitte dich, mich zu heiraten, obwohl ich Angst vor dir habe.«
»Angst vor mir?«
»Nicht, daß du mir schaden wolltest — du hast mir und meinem Vater das Leben gerettet. Ich habe Angst … vor der Verachtung, die du mir entgegenbringst. Ich habe Angst davor, stets vor dir und deiner Schwester erniedrigt zu werden, weil ihr beiden doch alles Schwache an mir erkennt und auf mich hinabseht. So, wie du mich jetzt siehst.«
Noch nie in seinem Leben hatte Nafai mit so brutaler Offenheit über seine Angst gesprochen; er hatte sich nie vor irgend jemandem so bloßgestellt und verletzlich gefühlt. Er wagte nicht, zu ihr aufzuschauen — zu ihnen —, weil er befürchtete, einen Ausdruck der verwunderten Verachtung auf ihren Gesichtern zu sehen.
»Oh, Nafai, es tut mir leid«, flüsterte Luet.
Ihre Worte kamen als der Schlag, den er am meisten gefürchtet hatte. Sie hatte Mitleid mit ihm. Sie sah, wie schwach und verängstigt und unsicher er war, und er tat ihr leid. Und doch verspürte er sogar im Schmerz dieses Augenblicks der Enttäuschung ein kleines, helles Freudenfeuer in sich. Ich kann es schaffen, dachte er. Ich habe diesen starken Frauen meine Schwäche eingestanden, und doch bin ich noch immer ich, ich lebe noch und wurde keineswegs unterworfen.
»Nafai, ich habe nur an meine eigene Angst gedacht«, sagte Luet. »Ich hätte nie gedacht, daß du genauso empfindest, oder ich hätte Schuja nicht gebeten, bei uns zu bleiben, als du zu mir kamst.«
»Es ist nicht gerade ein Vergnügen, hier zu sein, das kann ich dir versichern«, fügte Huschidh hinzu.
»Es war falsch von mir, dich zu zwingen, diese Dinge in Schujas Gegenwart zu sagen«, fuhr Luet fort. »Und es war falsch von mir, Angst vor dir zu haben. Ich hätte wissen müssen, daß die Überseele dich nicht erwählt hätte, wenn du kein gutes Herz hättest.«
Sie hatte Angst vor ihm?
»Willst du mich nicht ansehen, Nafai?« fragte sie. »Ich weiß, daß du mich noch nie angesehen hast, zumindest nicht mit Hoffnung oder Sehnsucht, aber nachdem die Überseele uns nun einander gegeben hat, könntest du mich nicht wenigstens mit … Freundlichkeit ansehen?«
Wie konnte er nun das Gesicht heben, da ihm doch Tränen in den Augen standen? Andererseits — wie konnte er sich weigern, nachdem sie ihn darum gebeten hatte und er sie enttäuschen würde, falls er es nicht tat? Er sah sie an, und obwohl seine Augen feucht schimmerten — vor Tränen der Freude, der Erleichterung, sogar noch stärkerer Gefühle, die er nicht verstand —, sah er sie, als sähe er sie zum ersten Mal, als wäre ihre Seele plötzlich für ihn durchsichtig geworden. Er sah die Reinheit ihres Herzens. Er sah, wie vollständig sie sich der Überseele verschrieben hatte — und Basilika und ihrer Schwester und ihm. Er sah, daß sie sich in ihrem Herzen danach sehnte, etwas Gutes und Wunderschönes zu errichten, und daß sie sich darauf freute, es gemeinsam mit diesem Jungen zu versuchen, der vor ihr saß.
»Was siehst du, wenn du mich so ansiehst?« fragte Luet mit furchtsamer Stimme, doch immerhin mutig genug, die Frage überhaupt zu stellen.
»Ich sehe, was für eine große und herrliche Frau du bist«, sagte er, »und wie wenig Grund ich hatte, dich zu fürchten, weil du weder mir noch einer anderen Seele jemals Schaden zufügen würdest.«
»Mehr siehst du nicht?« fragte sie.
»Ich sehe, daß die Überseele in dir das perfekteste Beispiel dafür gefunden hat, wozu die gesamte menschliche Rasse werden muß, falls wir unversehrt bleiben und uns nicht erneut vernichten wollen.«
»Sonst nichts?« fragte sie.
»Was kann ich Schöneres sehen als die Dinge, von denen ich gerade gesprochen habe?« /
Mittlerweile hatten sich seine Augen wieder soweit geklärt, daß er sehen konnte, daß sie nun in Tränen auszubrechen drohte — aber keineswegs in Freudentränen.
»Nafai, du armer Narr, du blinder Mann«, sagte Huschidh, »siehst du denn nicht das, von dem sie hofft, daß du es siehst?«
Nein, ich sehe es nicht, dachte Nafai. Ich weiß nicht, was ich jetzt hätte sagen sollen. Ich bin nicht wie Mebbekew, ich bin nicht klug oder taktvoll, und wenn ich spreche, beleidige ich alle, und irgendwie habe ich es schon wieder getan, obwohl ich alles, was ich gesagt habe, ehrlich meine.
Er sah sie an und kam sich ganz hilflos vor; was konnte er tun? Sie sah ihn so begierig an und wartete darauf, daß er ihr — ja, was? — gab. Er hatte sie ehrlich gelobt, ein Lob, das er keiner anderen Frau auf der ganzen Welt hätte aussprechen können, und doch bedeutete es ihr nichts, weil sie mehr von ihm wollte, und er wußte nicht, was. Er verletzte sie mit seinem Schweigen, versetzte ihr einen Stich ins Herz, das sah er — und doch konnte er nichts daran ändern.
Sie war so zerbrechlich, so jung — noch jünger als er. Er hatte das nie zuvor begriffen. Sie war immer so selbstsicher gewesen, und weil sie die Wasserseherin war, hatte er sie immer mit Ehrfurcht behandelt. Er hatte nie begriffen, wie … wie grazil sie war. Wie dünn ihre leuchtende Haut war, wie klein ihre Knochen waren. Ein winziger Stein konnte ihr einen Bluterguß zufügen, und nun habe ich sie mit viel größeren Steinen beworfen, ohne es überhaupt zu bemerken. Verzeih mir, Luet, zartes Kind, sanftes Mädchen. Ich hatte solche Angst um mich, doch es stellte sich heraus, daß ich nicht zerbrechlich war, nicht einmal, als ich glaubte, du und Huschidh, ihr beide hättet mich verhöhnt. Während du, die ich für stark gehalten habe …
Impulsiv kniete er nieder, nahm sie in die Arme und drückte sie an sich, wie man vielleicht ein weinendes Kind festhielt. »Es tut mir leid«, flüsterte er.
»Bitte, es muß dir nicht leid tun«, sagte sie, doch ihre Stimme war hoch, wie die eines Kindes, das sich bemüht, nicht zu weinen, und er fühlte, daß ihre Tränen sein Hemd durchnäßten und ihr Körper vor stillem Schluchzen zitterte.
»Es tut mir leid, daß du nur mich als Gatten bekommst«, sagte er.
»Und mir tut es leid, daß du nur mich als Frau bekommst«, sagte sie. »Nicht die Wasserseherin, nicht das prachtvolle Wesen, das du zu sehen geglaubt hast. Nur mich.«
Endlich begriff er, wonach sie die ganze Zeit über gefragt hatte, und lachte unwillkürlich laut auf, weil er es ihr gerade gegeben hatte, ohne es zu wissen. »Glaubst du etwa, ich hätte diese Dinge zur Wasserseherin gesagt?« fragte er. »Nein, du armes Ding, ich habe diese Dinge zu dir gesagt, zu Luet, zu dem Mädchen, das ich in der Schule meiner Mutter kennengelernt habe, zu dem Mädchen, das mir und allen anderen freche Widerworte gegeben hat, wenn es sich danach fühlte, zu dem Mädchen, das ich jetzt in den Armen halte.«
Da lachte sie — oder schluchzte lauter, er wußte es nicht genau. Aber er wußte, was auch immer sie jetzt tat, es war besser. Mehr hatte sie nicht gebraucht — er hatte ihr sagen müssen, daß er nicht von ihr erwartete, ständig die Wasserseherin zu sein, sondern den zerbrechlichen, keineswegs perfekten Menschen heiraten zu wollen.
Er bewegte seine Hände über ihren Rücken, um sie zu trösten; aber er fühlte auch die Rundungen ihres Körpers, die Geometrie der Rippen und des Rückgrats, die Weichheit der Haut, die straff über Muskeln gespannt war. Seine Hände erkundeten, nahmen sie auf, entdeckten zum erstenmal, wie sich der Rücken einer Frau unter den Händen eines Mannes anfühlte. Sie war wirklich und kein Traum.
»Nicht die Überseele hat dich mir gegeben«, sagte er leise. »Du gibst dich mir selbst.«