»Ja«, sagte sie. »Das stimmt.«
»Und ich gebe mich dir«, sagte er. »Obwohl auch ich der Überseele gehöre.«
Er zog sich etwas zurück, um ihren Hinterkopf in die rechte Hand nehmen zu können, als sie zu ihm aufsah, und um mit Fingern der linken Hand ihre Wange zu berühren.
Dann, plötzlich, als hätten sie beide im gleichen Augenblick denselben Gedanken gehabt — was mit einiger Wahrscheinlichkeit auch zutraf —, wandten sie den Blick voneinander ab und sahen zu der Stelle hinüber, an der Huschidh während des gesamten Gesprächs gesessen hatte.
Aber Huschidh war nicht da. Sie sahen sich wieder an, und Luet sagte bestürzt: »Ich hätte sie nicht dazu bringen sollen, mich hierher zu …«
Sie beendete den Satz nicht, denn in diesem Augenblick lernte Nafai, wie man eine Frau küßt, und obwohl Luet noch nie zuvor einen Mann geküßt hatte, wurde sie zu seiner Lehrmeisterin.
6
Hochzeiten
Der Traum der Entwirrerin
Huschidh erlebte die Hochzeit nicht als freudiges Ereignis. Nicht, daß etwas schiefgegangen wäre. Tante Rasa konnte mit Ritualen umgehen. Ihre Zeremonie war schlicht und nett, ohne einen Anflug der falschen Würde, auf die so viele andere Frauen in ihrem verzweifelten Begehren zurückgriffen, heilig oder wichtig zu wirken. Tante Rasa hatte nie etwas vortäuschen müssen. Und doch achtete sie sorgsam darauf, bedeutsame öffentliche Feiern — Hochzeiten, Mündigkeiten, Schulabschlüsse, Verabschiedungen, Weissagungen, Totenwachen, Beerdigungen — mit einer leichten Würde durchzuführen, mit einer Sanftheit, die die Gedanken der Teilnehmer auf den Anlaß selbst konzentrierte und nicht auf den Ablauf der Feier. Es gab niemals eine Andeutung von Eile oder Geschäftigkeit; niemals eine Andeutung darauf, daß alles einfach genau so sein mußte und man daher lieber aufpaßte, um nichts Falsches zu tun.
Nein, Rasas Hochzeitsfeier für ihren Sohn Nafai und seine beiden Brüder — oder, wenn man es anders herum sah, Rasas Hochzeitsfeier für ihre drei Nichten Luet, Dol und Eiadh — war eine schöne Angelegenheit auf dem Säulengang ihres Hauses, der herausgeputzt war und nach den Blumen des Gewächshauses und den Blüten roch, die dort wuchsen. Eiadh und Dol waren erstaunlich schön; ihre Gewänder umschmiegten sie mit der eleganten Illusion von Einfachheit, ihr Make-up war so kunstfertig aufgelegt, daß es überhaupt nicht vorhanden zu sein schien. Man hätte es gar nicht bemerkt, wäre Luet nicht gewesen.
Die liebe Luet, die sich geweigert hatte, überhaupt Make-up aufzulegen, und deren Kleid wirklich einfach war. Während Eiadh und Dol die Eleganz von Frauen aufwiesen, die — mit großem Erfolg — schön und jung und fröhlich wirken wollten, war Luet tatsächlich jung; ihr Gewand bedeckte schlicht einen Körper, der eher Fraulichkeit verhieß, als daß er sie schon erreicht hätte, und ihr Gesicht strahlte vor einer ernsten und furchtsamen Freude, die Eiadh und Dol älter und viel zu erfahren aussehen ließ. Gewissermaßen war es fast grausam, die beiden älteren Frauen die Ehe in der Gegenwart dieses Mädchens schließen zu lassen, das sie allein durch ihre Ungezwungenheit beschämte. Eiadh hatte es in der Tat bemerkt, bevor die Zeremonie begann – Huschidh hatte mitbekommen, wie sie Tante Rasa drängte, »jemanden zu Luet hinaufzuschicken, die ihr dabei hilft, ein Kleid auszusuchen und etwas mit ihrem Gesicht und Haar anzustellen«, doch Tante Rasa hatte nur gelacht und gesagt: »Diesem Kind werden keine solchen Kunstgriffe helfen können.« Eiadh faßte dies natürlich so auf, daß Tante Rasa meinte, Luet wäre zu schlicht, als daß man sie mit einem Kleid und Make-up herausputzen könnte; doch Tante Rasa hatte Huschidh unmittelbar danach angesehen, ihr zugeblinzelt und die Augen verdreht, um sie wissen zu lassen, daß die arme Eiadh nicht die geringste Ahnung hatte, was bei der Hochzeit passieren würde.
Und es passierte tatsächlich, obwohl Eiadh und Dol zum Glück nicht mitbekamen, daß die anwesenden Dienstmädchen und Schülerinnen und Lehrerinnen Luet meinten, nur Luet, als sie »Ah, sie ist so schön!«, »Ah, so bezaubernd!«, »Seht, wer hätte gedacht, daß sie so schön ist!« flüsterten. Als Nafai als der jüngste Mann vortrat, um von seiner Braut empfangen zu werden, klangen die Seufzer wie ein Lied von der Festgemeinde, eine improvisierte Hymne an die Überseele, weil sie diesen Jungen von vierzehn Jahren, der die Statur und Kraft eines Mannes und das helle Feuer der Überseele in den Augen hatte, dazu gebracht hatte, die erwählte Tochter der Überseele zu heiraten, die Wasserseherin, deren reine Schönheit von ihrer Seele nach außen gedrungen war. Er war der glänzende Goldring, in dem dieses Juwel von Mädchen mit ungebrochenem Glanz strahlen würde.
Huschidh sah besser als alle anderen, wie Luet die Herzen der Gäste für sich eingenommen hatte. Sie sah die Fäden zwischen ihnen, die wie vom Tau benetzte Stränge eines Spinnennetzes im ersten Sonnenlicht des Morgens funkelten; wie sie die Wasserseherin liebten! Doch am deutlichsten sah Huschidh, als die Zeremonie voranschritt, die entstehenden Bande zwischen den Gatten und Gattinnen. Unbewußt nahm sie jede Geste wahr, jeden Blick, jeden Gesichtsausdruck und war daraufhin imstande, in ihrem Geist die Verbindungen zu verstehen.
Zwischen Elemak und Eiadh würde es zu einer seltsamen, ungleichen Partnerschaft kommen; je weniger Eiadh Elemak liebte, desto mehr würde er sie begehren, und je sanfter und liebevoller er sie behandelte, um so mehr würde sie ihn verachten. Es würde schmerzlich werden, diese Ehe zu beobachten, in der der Schmerz des Auseinandergehens gleichzeitig das einzige war, was sie zusammenhalten würde. Doch Huschidh konnte nichts darüber sagen — keiner der beiden würde es verstehen, und sie würden nur wütend werden, wenn sie versuchte, es zu erklären.
Was die arme Dolja und ihren kostbaren neuen Geliebten betraf, Mebbekew, so war es in der Tat eine unüberlegte Ehe — und doch gab es keinen Grund für die Annahme, daß sie sich als weniger entwicklungsfähig als die von Elemak und Eiadh erweisen würde. Im Augenblick waren sie, erregt, weil sie glaubten, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, glücklich mit der neuen Verbindung zwischen ihnen. Doch schon bald würde die Wirklichkeit sie einholen. Wenn sie in der Stadt blieben, würden sie einander in ein paar Wochen hassen — Dol wegen Mebbekews Untreue und Unehrlichkeit, Mebbekew wegen Dols besitzergreifender Art. Huschidh stellte sich ihr Familienleben vor. Dol würde ihn ständig mit wunderbaren, enthusiastischen Umarmungen umschlingen und glauben, sie würde ihm damit ihre Liebe erweisen, während sie in Wirklichkeit doch nur ihren Besitzanspruch geltend machte; und Meb würde unter ihren überreichlichen Umarmungen erschaudern und sich bei jeder Gelegenheit davonstehlen, um neue Körper zu besitzen, neue Herzen zu erobern. Aber in der Wüste würde es ganz anders sein. Meb würde außer Dolja keine Frau finden, die ihn begehrte, und so würde seine Lust ihn immer wieder zurück in ihre Arme treiben; und schon allein die Tatsache, daß er sie nicht betrügen konnte, würde Dols Angst vor der Einsamkeit lindern, und sie würde ihn mit ihrem Bedürfnis, ihn zu besitzen, nicht so sehr unterdrücken. In der Wüste konnten sie eine Ehe daraus machen, wenngleich Mebbekew niemals glücklich sein würde, weil es ihn langweilte, immer wieder mit derselben Frau zu schlafen, Nacht um Nacht, Woche um Woche, Jahr um Jahr.
Huschidh stellte sich mit einem Vergnügen vor, auf das sie nicht stolz war, was Elemak tun würde, wenn Meb zum erstenmal Anstalten machte, mit Eiadh zu flirten. Es würde diskret verlaufen, weil Elemak seine Position vor den anderen nicht schwächen wollte, indem er eingestand, Angst davor zu haben, daß man ihm Hörner aufsetzte. Aber Meb würde danach nicht mehr wagen, auch nur einen Blick auf Eiadh zu werfen …
Die Verbindungen zwischen Elemak und Eiadh, zwischen Dol und Mebbekew ähnelten denen, wie Huschidh sie jeden Tag in der Stadt sah. Das waren Ehen, wie sie schon immer in Basilika geschlossen worden waren, die lediglich bitterer — und vielleicht dauerhafter — sein würden, weil die Überseele sie bald in die Wüste führen würde, wo sie einander dringender brauchten und weniger Alternativen hatten als in der Stadt.