»Oder beides«, sagte Muuzh. »Bringe ihn zu mir und geleite ihn dann direkt nach unserem Gespräch mit einer Eskorte von vier Mann zu Herrin Rasas Haus zurück. Wenn ich ihn ins Gesicht schlage, wenn du die Tür öffnest, um ihn zu holen, wirst du ihn auf der Treppe von Herrin Rasas Haus töten. Wenn ich ihn anlächle, wirst du ihn mit Höflichkeit und Ehre behandeln. Aber er steht unter Arrest und darf das Haus nicht wieder verlassen.«
Der Soldat ließ die Tür hinter ihm offen. Muuzh setzte sich auf seinen Stuhl und wartete. Interessant, dachte er, daß ich die Schlüsselspieler der verdammten Spiele dieser Stadt nicht suchen muß. Sie alle kommen zu mir, einer nach dem anderen. Nafai war angeblich in der Wüste, in Sicherheit und außerhalb meiner Reichweite — aber er war die ganze Zeit über in Herrin Rasas Haus. Auf welche anderen Überraschungen werden wir in ihrem Haus noch stoßen? Auf die anderen Söhne? Wie hatte Bitanke sie beschrieben … Elemak, der kluge und gefährliche Karawanengänger; Mebbekew, der wandelnde Penis; Issib, der brillante Krüppel. Oder warum nicht Wetschik selbst, den Pflanzenhändler mit den Visionen? Sie alle warten vielleicht in Rasas Mauern darauf, wie Muuzh sie benutzen konnte.
War es möglich — einfach möglich —, daß Gott sich tatsächlich entschieden hatte, Muuzh’ Sache zu begünstigen? Daß Gott sich Muuzh jetzt nicht mehr widersetzte, sondern ihn unterstützte und ihm jedes Werkzeug in die Hände spielte, das er benötigte, um seine Ziele zu erreichen?
Ich bin bestimmt nicht die Inkarnation von irgend etwas, abgesehen von mir selbst, dachte Muuzh; ich habe nicht den Wunsch, den Heiligen zu spielen, wie der Imperator es tut. Aber wenn Gott endlich bereit ist, mir in meiner Sache Hilfe zu gewähren, werde ich sie nicht zurückweisen. Vielleicht ist in Gottes Herz die Stunde der Sotschitsija angebrochen.
Nafai hatte Angst, andererseits jedoch auch wieder nicht. Es war ein überaus seltsames Gefühl. Als wäre ein verängstigtes Tier in ihm, das entsetzt darüber war, daß er sich zu einem Ort begab, an dem der Tod nur ein Wort entfernt war, und doch konnte Nafai selbst, jener Teil von ihm, der einfach er selbst war und nicht das Tier, kaum abwarten herauszufinden, was er sagen würde, ob er Muuzh begegnen würde und was dann geschehen würde. Er war sich des unmittelbar drohenden Tods unter den Gorajni durchaus bewußt; doch er war auf einer tiefen Ebene seines Verstandes einfach zu dem Schluß gekommen, daß sein persönliches Überleben unbedeutend war. Die Soldaten waren anscheinend eher verblüfft als beunruhigt gewesen, als er sie auf der Straße mit den Worten »Bringt mich zum General. Ich bin Wetschiks Sohn Nafai, und ich habe Gaballufix getötet!« angesprochen hatte. Mit diesen Worten hatte er sein Leben selbst auf die Waagschale gelegt, denn nun hatte Muuzh Zeugen seines Geständnisses eines Verbrechens, das zu seiner Hinrichtung führen konnte; Muuzh hätte nicht einmal einen Vorwand zusammenschustern müssen, um ihn töten zu lassen, wenn er dies denn wollte.
Gaballufix’ Haus war unverändert, und doch hatte es sich völlig verändert. Kein Vorhang, kein Möbelstück war ausgewechselt worden. Der gesamte üppige Überfluß war noch intakt, der Plüsch, die überreichen Verzierungen, die kühnen Farben. Und doch war die Wirkung all dieser Protzerei nicht überwältigend, sondern einfach nur pathetisch, denn die einfache Disziplin und der scharfe, bedingungslose Gehorsam der Gorajni-Soldaten ließ alles andere um sie herum geringer wirken. Gaballufix hatte diese Einrichtung gewählt, um seine Besucher einzuschüchtern, sie in Ehrfurcht zu versetzen; doch nun wirkte sie schwach und ausgelaugt, als habe die Person, die sie zusammengekauft hatte, Angst davor bekommen, daß die Leute sehen könnten, wie schwach seine Seele war und er sie deshalb hinter dieser Barrikade aus hellen Farben und Goldborden verstecken mußte.
Echte Macht, erkannte Nafai, zeigt sich in nichts, das man mit Geld kaufen kann. Geld kann einem nur die Illusion von Macht kaufen. Echte Macht liegt in der Willenskraft — ein Wille, der so stark ist, daß die anderen sich ihm allein wegen dieser Kraft beugen und bereitwillig folgen. Macht, die durch Täuschung gewonnen wurde, wird unter dem heißen Licht der Wahrheit verdampfen, wie Raschgallivak herausgefunden hat; doch echte Macht wird immer stärker, je genauer man sie betrachtet, selbst, wenn sie nur einer einzigen Person innewohnt, ohne Heere, ohne Diener, ohne Freunde, aber mit einem unbeugsamen Willen.
Solch ein Mann wartete auf ihn, saß an einem Tisch hinter einer offenen Tür. Nafai kannte diesen Raum. Hier waren er und seine Brüder Gaballufix gegenübergetreten, hier war Nafai das eine oder andere Wort entglitten, das Elemaks schwierige Verhandlungen um den Index scheitern ließ. Nicht, daß Gaballufix sie nicht sowieso betrügen wollte. Doch die Tatsache blieb bestehen, daß Nafai unbedacht gesprochen und nicht begriffen hatte, daß Elemak, der scharfe Geschäftsmann, Schlüsselinformationen zurückhielt.
Einen Augenblick lang nahm Nafai sich vor, diesmal bedachter zu sein, Informationen zurückzuhalten, wie Elemak es getan hätte, und bei diesem Gespräch listig vorzugehen.
Dann sah General Muuzh auf, und Nafai sah ihm in die Augen und machte einen tiefen Brunnen des Zorns und Leidens und Stolzes und, ganz am Grund dieses Brunnens, eine scharfe Intelligenz aus, die jede Täuschung durchschauen würde.
Ist das der wirkliche Muuzh? Habe ich den echten Muuzh gesehen?
Und in seinem Herzen flüsterte die Überseele: Ich habe ihn dir gezeigt, wie er wirklich ist.
Dann kann ich diesen Mann nicht belügen, dachte Nafai. Was mir auch recht ist, weil ich kein guter Lügner bin. Ich habe nicht das Talent dazu. Ich kann nicht die tiefe Selbsttäuschung aufrecht halten, die ein erfolgreicher Lügner benötigt. Die Wahrheit steigt in meinem Geist an die Oberfläche, und so verrate ich mich mit jedem Wort, jedem Blick, jeder Geste.
Außerdem bin ich nicht hergekommen, um herauszufinden, ob meine Intelligenz in einem Wettstreit der General Vozmuzhalnoi Vozmozhnos gewachsen ist. Ich bin hierher gekommen, um ihm die Gelegenheit zu geben, uns auf unserer Reise zur Erde zu begleiten. Wie könnte er das wollen, wenn ich ihm etwas anderes als die Wahrheit sage?
»Nafai«, sagte Muuzh. »Bitte nimm Platz.«
Nafai setzte sich. Er bemerkte, daß auf dem Tisch vor dem General eine Karte ausgebreitet war. Die Westküste. Irgendwo auf dieser Karte, tief in der südwestlichen Ecke, war der Bach, an dem Vater und Issib und Zdorab in ihren Zelten warteten und dem Heulen und Bellen einer Pavianherde lauschten. Zeigt die Überseele Vater, was ich nun tue? Hat Issib den Index, und fragt er, wo ich bin?
»Ich nehme an, du hast dich nicht gestellt, weil dein Gewissen dich überwältigt hat und du möchtest, daß dir der Prozeß wegen des Mordes an Gaballufix gemacht wird, damit du deine Schuld sühnen kannst.«
»Nein, Herr«, sagte Nafai. »Ich habe gestern abend geheiratet. Ich habe nicht den Wunsch, eingesperrt oder verurteilt oder getötet zu werden.«
»Gestern abend geheiratet? Und noch vor dem Morgengrauen gestehst du auf der Straße ein Kapitalverbrechen? Mein Junge, ich fürchte, du hast keine gute Wahl getroffen, wenn deine Frau dich nicht einmal eine Nacht lang halten kann.«
»Ich bin wegen eines Traums gekommen«, sagte Nafai.
»Ah — wegen deines Traums oder dem deiner Frau?«
»Wegen deines Traums, Herr.«
Muuzh wartete ausdruckslos.
»Ich glaube, du hast einmal von einem Mann geträumt, auf dessen Schulter ein pelziges Fluggeschöpf sitzt und dessen Bein eine Riesenratte umklammert, und Männer und Ratten und Engel kamen und haben sie angebetet, .alle drei, und sie berührt und …«
Doch Nafai fuhr nicht fort, denn Muuzh war aufgesprungen und durchbohrte ihn mit diesen tödlichen, gequälten Blicken. »Ich habe diesen Traum Plod erzählt, und er hat ihn dem Fürsprecher erzählt, also war er bekannt«, sagte Muuzh. »Und die Tatsache, daß du ihn kennst, verrät mir, daß du mit jemandem vom Hof des Imperators in Kontakt gestanden hast. Also höre mit dieser Verstellung auf und sage mir die Wahrheit!«