»Dann müssen wir uns ihr beugen«, sagte Luet.
»Beuge dich, wem immer du willst«, sagte Rasa. »Ich werde mich der Überseele nicht beugen, wenn sie meine Jungen in Mörder und meine Stadt in Staub verwandelt. Wenn die Überseele das beabsichtigt, sind die Überseele und ich Feinde. Hast du mich verstanden?«
»Sprich leiser, Tanta Rasa«, sagte Huschidh. »Sonst weckst du die anderen.«
Rasa verstummte kurz. »Ich habe gesagt, was ich zu sagen habe«, murmelte sie dann.
»Du bist nicht der Feind der Überseele«, sagte Luet. »Bitte warte eine Weile. Laß mich versuchen, den Willen der Überseele in diesem Plan herauszufinden. Deshalb hast du mich doch kommen lassen, nicht wahr? Damit ich dir sage, was die Überseele vorhat?«
»Ja«, sagte Rasa.
»Ich kann der Überseele keine Befehle erteilen«, sagte Luet. »Aber ich werde sie bitten. Warte hier, und ich …«
»Nein«, sagte Rasa. »Du kannst nicht zum See hinabgehen. Dazu bleibt uns nicht die Zeit.«
»Nicht zum See hinab«, sagte Luet. »Auf mein Zimmer. Um zu schlafen. Zu träumen. Auf die Stimme zu hören, auf die Vision zu warten. Falls sie kommt.«
»Dann beeil dich«, sagte Rasa. »Uns bleibt nur noch vielleicht eine Stunde, dann werde ich etwas unternehmen müssen — immer mehr Leute werden hierher kommen, und ich muß etwas unternehmen.«
»Ich kann der Überseele keine Befehle erteilen«, wiederholte Luet. »Und die Überseele hat ihren eigenen Fahrplan. Sie folgt nicht dem deinen.«
Kokor ging zu Sevets Lieblingsversteck, wohin sie ihre Liebhaber mitnahm, damit Vas nichts von ihnen erfuhr, und Sevet war nicht dort. »Sie kommt nicht mehr hierher«, sagte Iliva, Sevets Freundin. »Und auch nicht mehr zu den anderen Verstecken in Dauberville. Vielleicht ist sie treu geworden!« Dann lachte Iliva und wünschte ihr eine gute Nacht.
Also konnte Kokor ihr doch keins auswischen. Das war sehr enttäuschend.
Warum hatte Sevet ein neues Versteck gewählt? Hatte sich ihr Gatte Vas auf die Suche nach ihr gemacht? Dafür war er doch viel zu würdevoll! Und doch blieb die Tatsache bestehen, daß Sevet ihre alten Verstecke aufgegeben hatten, obwohl Iliva und Sevets andere Freundinnen ihr liebend gern auch weiterhin Unterschlupf gewährt hätten.
Das konnte nur eins bedeuten. Sevet hatte einen neuen Liebhaber gefunden, war ein richtiges Verhältnis eingegangen, nicht nur eine schnelle Liebschaft, und dieser Mann hatte einen so bedeutenden Rang in der Stadt inne, daß sie für ihre Schäferstündchen neue Verstecke suchen mußten, weil der Skandal, wäre er bekannt geworden, sonst mit Sicherheit Vas zu Ohren gekommen wäre.
Wie köstlich, dachte Kokor. Sie versuchte sich vorzustellen, wer es sein könnte, wer von den bekanntesten Männern der Stadt Sevets Herz gewonnen haben könnte. Natürlich mußte es sich um einen verheirateten Mann handeln; wenn er nicht mit einer Frau Basilikas verheiratet war, hatte kein Mann das Recht, auch nur eine einzige Nacht in der Stadt zu verbringen. Wenn Kokor Sevets Geheimnis also schließlich herausfinden würde, würde es in der Tat einen wunderbaren Skandal geben, denn eine verletzte Ehefrau würde dazu beitragen, daß Sevet sich nur noch mehr wie eine Schlampe fühlen würde.
Und ich werde es erzählen, dachte Kokor. Denn da sie diese Liaison vor mir verborgen gehalten und mir nichts davon erzählt hat, bin ich nicht verpflichtet, ihr Geheimnis zu bewahren. Sie hat mir nicht vertraut; warum sollte ich mich also als vertrauenswürdig erweisen?
Kokor würde es natürlich nicht selbst von den Dächern pfeifen. Doch sie kannte viele Satiriker im Offenen Theater, die liebend gern davon erfahren würden; jeder von ihnen wollte der erste sein, der in einem Stück mit spitzen Pfeilen auf die süße Sevet und ihren Liebhaber schießen konnte. Und sie würde ihm keinen hohen Preis für die Geschichte abknöpfen — nur die Gelegenheit, Sevet zu spielen, wenn man mit Pfeilen auf sie schoß. Das würde Tumannus Drohung, sie auf die schwarze Liste zu setzen, schnell ein Ende bereiten.
Ich werde Sevets Stimme imitieren, dachte Kokor, und dabei ihren Gesang durch den Kakao ziehen. Niemand kann ihr so ähnlich klingen wie ich. Niemand kennt die Schwächen ihrer Stimme so genau wie ich. Sie wird es bedauern, mich nicht in ihr Geheimnis eingeweiht zu haben! Und doch werde ich maskiert sein, wenn ich sie verspotte, und ich werde alles abstreiten, alles abstreiten; und sogar, wenn Mutter mich bitten sollte, bei der Überseele darauf zu schwören, werde ich es abstreiten. Sevet ist nicht die einzige, die ein Geheimnis für sich behalten kann.
Es war spät, nur ein paar Stunden vor der Morgendämmerung, doch die letzten Komödien würden erst in einer Stunde enden. Wenn sie zum Theater zurückeilte, könnte sie wahrscheinlich wenigstens zum Finale wieder auf der Bühne stehen. Doch sie konnte sich nicht dazu bringen, die Szene zu spielen, die sie Tumannu vorspielen mußte — sie um Verzeihung bitten, etwas weinen und ihr schwören, nie wieder ein Stück im Stich zu lassen. Das wäre zu erniedrigend. Keine Tochter Gaballufix’ sollte vor einer einfachen Bühnenbesitzerin kriechen müssen.
Aber was spielt es jetzt, wo er tot ist, noch für eine Rolle, ob ich seine Tochter bin oder nicht? Dieser Gedanke erfüllte sie mit Abscheu. Sie fragte sich, ob dieser Rasch vielleicht recht gehabt hatte, ob Vater ihr so viel Geld hinterlassen hatte, daß sie sehr reich war und ihr eigenes Theater kaufen konnte? Das wäre doch sehr schön, oder? Damit wären alle Probleme gelöst. Natürlich würde Sevet genausoviel Geld haben und sich wahrscheinlich ebenfalls ein Theater kaufen, nur, weil sie Kokor wie üblich übertreffen und ihr jede Gelegenheit nehmen mußte, Ruhm zu erlangen, doch Kokor würde sich einfach als die bessere Veranstalterin erweisen und Sevets elendiges Nachzieh-Theater in den Staub zwingen, und wenn Sevet schließlich scheiterte, würde sie ihr gesamtes Vermögen verloren haben, während Kokor die führende Gestalt in der Theaterwelt Basilikas war, und es würde der Tag kommen, da Sevet zu Kokor angekrochen kam und sie bat, ihr eine Hauptrolle in einem ihrer Stücke zu geben, und Kokor würde ihre Schwester umarmen und weinen und sagen: »Oh, meine liebe Schwester, ich würde dir liebend gern wieder auf die Beine helfen, aber ich habe eine Verpflichtung gegenüber meinen Finanziers, meine Liebe, und ich kann wohl schlecht das Risiko eingehen, ihr Geld bei einem Stück aufs Spiel zu setzen, dessen Hauptrolle eine Sängerin spielt, die ihre beste Zeit eindeutig hinter sich hat.«
Oh, war das ein köstlicher Traum! Einmal davon abgesehen, daß Sevet nur ein einziges Jahr älter war — für Kokor machte dieses eine Jahr den gesamten Unterschied aus. Sevet mochte ihr jetzt voraus sein, doch eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft würde die Jugend ihnen kostbarer sein als das Alter, und dann hatte Kokor den Vorteil. Jugend und Schönheit — Kokor würde immer mehr von beidem haben als Sevet. Und sie war mindestens genauso talentiert wie Sevet.
Nun war sie zu Hause, stand vor dem kleinen Haus, das sie und Obring in der Hügelstadt gemietet hatten. Es war bescheiden, aber mit exquisitem Geschmack eingerichtet. Zumindest das hatte sie von ihrer Tante Dhelembuvex – Obrings Mutter — gelernt: es ist besser, ein kleines, aber perfekt eingerichtetes Heim zu haben als ein großes, schlecht gepflegtes. »Eine Frau muß sich als die Blüte der Perfektion präsentieren«, sagte Tantchen Dhel immer. Kokor hatte es viel besser ausgedrückt, in einem Aphorismus, den sie veröffentlicht hatte, als sie erst fünfzehn Jahre alt gewesen war, bevor sie Obring geheiratet und Mutters Haus verlassen hatte: