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»Siehst du denn nicht ein, Junge, daß du mir genau dieselbe Geschichte erzählt hast, die ich dir erzählt habe? Daß die Überseele mich die ganze Zeit über getäuscht hat? Ich habe lediglich die kleine, verrückte Geschichte umgedreht, mit der du mich für dich gewinnen wolltest. In Wirklichkeit hat die Überseele uns beide zum Narren gehalten, und so können wir lediglich versuchen, für uns das beste Leben zu schaffen, das auf dieser Welt möglich ist. Wenn du glaubst, das beste Leben für dich und deine frischgebackene Frau wäre es, Basilika für mich zu beherrschen, Teil der Schöpfung des größten Reiches zu sein, das Harmonie je gesehen hat, dann biete ich dir dieses Leben an, und ich werde dir so treu sein, wie du mir treu bist. Entscheide dich jetzt.«

»Ich habe mich entschieden«, sagte Nafai. »Es wird kein großes Reich geben. Die Überseele wird es nicht dulden. Und selbst, wenn es solch ein Reich gäbe, würde es mir nichts bedeuten. Der Hüter der Erde ruft uns. Der Hüter der Erde ruft dich. Und ich bitte dich erneut, General Vozmuzhalnoi Vozmozhno, vergiß diesen bedeutungslosen Wunsch, ein Reich zu errichten oder dich zu rächen, oder was auch immer dich seit all diesen Jahren treibt. Komm mit uns auf die Welt, auf der die Menschheit geboren wurde. Setze deine Größe für eine Sache ein, die deiner würdig ist. Begleite uns.«

»Euch begleiten?« fragte Muuzh. »Ihr geht nirgendwo hin.« Muuzh erhob sich, ging zur Tür und öffnete sie. »Bringt diesen Jungen zu seiner Mutter zurück.«

Zwei Soldaten erschienen, als hätten sie vor der Tür gewartet. Nafai erhob sich von seinem Stuhl und ging zu Muuzh hinüber, der die Türöffnung halb blockierte. Sie sahen einander in die Augen. Nafai sah dort noch immer Zorn, der von nichts gedämpft worden war, was sich an diesem Morgen hier zugetragen hatte. Aber er sah auch Furcht, und die hatte vorher nicht in den Augen gestanden.

Muuzh hob die Hand, als wolle er Nafai ins Gesicht schlagen; Nafai zuckte weder zusammen, noch wich er vor dem Schlag zurück. Muuzh zögerte, und als seine Hand sich dann senkte, senkte sie sich auf Nafais Schulter, und dann lächelte Muuzh ihn an. In seinem Geist hörte Nafai die Stimme, die er als die der Überseele kannte: Ein Schlag ins Gesicht war das Zeichen für die Soldaten, dich zu ermorden. So viel Macht habe ich noch im Verstand dieses rebellischen Mannes; ich konnte seinen Schlag in ein Lächeln verwandeln. Aber in seinem Herzen will er dich töten.

»Wir sind keine Feinde, Junge«, sagte Muuzh. »Erzähl niemandem, was ich dir heute gesagt habe.«

»Herr«, sagte Nafai, »ich werde meiner Frau und ihrer Schwester und meiner Mutter und meinen Brüdern alles sagen, was ich weiß. Dort gibt es keine Geheimnisse. Und selbst, wenn ich es ihnen nicht sagen würde, würde die Überseele es ihnen verraten. Mit meiner Geheimhaltung würde ich lediglich ihr Vertrauen verlieren.«

In dem Augenblick, da er die Geheimhaltung ablehnte, sah Nafai, daß die Soldaten erstarrten und sich anschickten, ihn zu maßregeln. Doch wie auch immer das Zeichen aussah, auf das sie warteten, es kam nicht.

Statt dessen lächelte Muuzh erneut. »Ein schwacher Mann hätte mir versprochen, nichts zu sagen, und es dann doch gesagt. Ein ängstlicher Mann hätte mir versprochen, nichts zu sagen, und es dann nicht gesagt. Du bist weder schwach noch ängstlich.«

»Der General lobt mich zu sehr«, sagte Nafai.

»Es wäre eine Schande, wenn ich dich töten müßte«, sagte Muuzh.

»Es wäre eine Schande, wenn ich sterben müßte.« Nafai konnte kaum glauben, so respektlos geantwortet zu haben.

»Du glaubst wirklich, daß die Überseele dich beschützen wird«, sagte Muuzh.

»Die Überseele hat mein Leben heute schon gerettet«, sagte Nafai.

Dann drehte er sich um und ging, während ein Soldat vor ihm und einer hinter ihm ausschritt.

»Warte«, sagte Muuzh.

Nafai blieb stehen und drehte sich um. Muuzh schlenderte gemächlich den Gang entlang. »Ich begleite dich«, sagte Muuzh.

Nafai spürte es daran, wie die Soldaten nervös ihr Gewicht verlagerten, obwohl sie sich nicht ansahen: damit hatten sie nicht gerechnet. Das hatte nicht zu dem Plan gehört.

So, dachte Nafai. Vielleicht habe ich nicht erreicht, was ich erhofft habe. Vielleicht habe ich Muuzh nicht überzeugt, uns zur Erde zu begleiten. Aber etwas hat sich verändert. Etwas ist anders geworden, weil ich hierher gekommen bin.

Ich hoffe, es ist eine Veränderung zum Besseren.

Die Überseele antwortete in seinem Kopf: Das hoffe ich auch.

7

Töchter

Der Traum der Herrin

Rasa schlief nach den Eheschließungen schlecht. Sie hatte, wie man es von einer Lehrerin in Basilika erwartete, ihre bösen Vorahnungen für sich behalten, doch es belastete sie gefühlsmäßig, ihre liebe, schwache Dolja einem Mann zu geben, den Rasa so wenig ausstehen konnte wie Mebbekew, den Sohn des Wetschik. Sicher, der Junge war stattlich und charmant — Rasa war nicht blind, sie wußte genau, wie attraktiv er sein konnte —, und unter normalen Umständen hätte sie nichts dagegen gehabt, daß er Doljas erster Gatte wurde, denn Dolja war nicht dumm und hätte sich nach einem Jahr mit Sicherheit entschieden, den Vertrag nicht zu verlängern. Aber sobald sie in der Wüste waren, standen Verlängerungen nicht mehr zur Debatte. Wohin auch immer diese Reise sie führen würde — Nafais unwahrscheinlicher Theorie zufolge auf die Erde —, dort würde es nicht die gelassene Einstellung zur Ehe geben, die in Basilika vorherrschte, und obwohl sie sie mehr als nur einmal gewarnt hatte, wußte sie, daß zumindest Meb und Dolja ihren Warnungen nicht die geringste Beachtung schenkten.

Denn Rasa war natürlich davon überzeugt, daß Meb nicht beabsichtigte, Basilika zu verlassen. Durch die Ehe mit Dol hatte er nun ein Bleiberecht erworben — er war Bürger der Stadt, und so würde er über jeden Versuch, ihn aus Basilika zu bringen, nur lachen. Hätten keine Gorajni-Soldaten vor dem Haus gestanden, wäre Meb noch an diesem Abend mit Dolja verschwunden und hätte sich nie wieder blicken lassen, bis die anderen es aufgegeben und die Stadt verlassen hätten. So hielt im Augenblick nur die Tatsache, daß Rasa unter Hausarrest stand, Meb bei der Stange. Nun ja, so sei es. Die Überseele würde die Dinge regeln, wie sie es für richtig hielt, und Mebbekew war wohl kaum jemand, der ihre Pläne durchkreuzen konnte.

Meb und Dolja, Elja und Edhja … Nun, sie hatte schon öfter mitansehen müssen, daß Nichten von ihr schlechte Ehen eingegangen waren. Hatte sie es nicht sogar bei ihren beiden Töchtern miterleben müssen? Nun ja, eigentlich hatte lediglich Kokor eine schlechte Wahl getroffen – Obring war lediglich anständiger als Mebbekew, weil er zu schwach und furchtsam und dumm war, um Frauen so geschickt wie Meb zu betrügen und auszubeuten. Sevet hingegen hatte eigentlich ziemlich gut geheiratet, und Vas’ Verhalten während der letzten Tage hatte Rasa ziemlich beeindruckt. Er war ein guter Mann, und nachdem Sevet nun ihre Stimme verloren hatte, würde der Schmerz sie vielleicht in eine gute Frau verwandeln. Es waren schon seltsamere Dinge geschehen.

Doch als Rasa nach den Eheschließungen zu Bett ging und nicht einschlafen konnte, war es die Ehe zwischen ihrem Sohn Nafai und ihrer liebsten Nichte Luet, die sie bekümmerte und wachhielt. Luet war so jung und Nafai ebenfalls. Wie konnte man sie so früh als Mann und Frau zusammenfügen, obwohl ihre Kindheit doch längst noch nicht abgeschlossen war? Beiden war etwas Kostbares gestohlen worden. Und die naive Freude, mit der sie an die Sache herangingen und versuchten, sich unbedingt ineinander zu verlieben, brach Rasas Herz nur noch um so mehr.