»Küß mich«, sagte Elemak.
»Wir sind mitten im Orchester, Elja!« sagte sie, doch er wußte, daß sie ihn küssen wollte.
»Um so besser«, sagte er. »Wir haben gestern abend geheiratet — die Leute rechnen damit, daß wir alles andere um uns herum vergessen haben werden.«
Also küßte sie ihn, und er ließ sich in den Kuß fallen, bis in seinem Kopf nur noch Begierde vorhanden war. Als sie sich endlich voneinander lösten, erklang donnernder Applaus – die Leute hatten es bemerkt, und Eiadh war hocherfreut.
Natürlich schlug Mebbekew Dol augenblicklich vor, daß sie sich ebenfalls küßten, doch sie war vernünftig und lehnte es ab. Dennoch beharrte Mebbekew, bis sich Elemak vorbeugte. »Meb«, sagte er zu ihm, »ein Antiklimax ist immer schlechtes Theater — hast du mir das nicht selbst gesagt?«
Meb schaute wütend drein und gab die Idee auf.
Ich beherrsche die Dinge noch immer, dachte Elemak. Und ich werde nicht glauben, daß es Stimmen in meinem Kopf gibt, nur weil ich sie mir herbeiwünsche. Ich bin nicht wie Vater und Nafai und Issib, die entschlossen an eine Phantasievorstellung glauben, weil der Gedanke, ein höheres Wesen würde sich um alles kümmern, so warm und behaglich ist. Ich kann mich mit der kalten, harten Wahrheit befassen. Und für einen echten Mann reicht das immer aus.
Die Hörner erschallten. Auf den Minaretten, die das Amphitheater umgaben, begannen sie mit ihrem klagenden Schreien. Das waren uralte Instrumente, nicht die fein gestimmten Hörner der Theater oder Konzerte, und sie versuchten nicht einmal, irgendeine Harmonie zu erzeugen. Jedes Horn hielt eine gewisse Zeit einen Ton, lang und laut, bis dem Bläser dann der Atem ausging. Die Töne überlagerten einander, manchmal mit einer erbärmlichen Dissonanz, manchmal mit einem erstaunlichen Gleichklang; doch stets war es ein eindringliches, wundervolles Geräusch.
Es brachte die Gäste zum Schweigen, die sich auf den Bänken versammelt hatten, und ließ Elemak vor Erwartung zittern, wie jede andere Person im Orchester auch, wie er wußte. Die Hochzeit konnte beginnen.
Durstig stand am Tor von Basilika und fragte sich, warum die Überseele sie nun im Stich ließ. Hatte sie ihr nicht bei jedem Schritt des langen Weges von Potokgavan beigestanden? Sie war auf ein Kanalschiff getreten und hatte gebeten, mitfahren zu dürfen, und die Besatzung hatte sie ohne eine einzige Frage an Bord genommen, obwohl sie das Fahrgeld nicht entrichten konnte. In dem großen Hafen hatte sie dem Kapitän eines Freibeuterschiffs kühn gesagt, die Überseele verlange, sie schneller nach Rotküste zu bringen, als je ein Schiff gefahren sei, und er hatte gelacht und sich gebrüstet, solange er keine Fracht aufnähme, könne er es bei einem so gut stehenden Wind in einem Tag schaffen. In Rotküste war eine feine Dame auf der Straße von ihrem Pferd abgestiegen und hatte es Durstig angeboten.
Auf diesem Pferd erreichte Durstig das Tiefe Tor, und sie erwartete, sofort eingelassen zu werden, wie es bei Frauen stets der Fall war, ob sie nun Bürgerinnen waren oder nicht. Statt dessen wurde das Tor von Gorajni-Soldaten bewacht, und sie wiesen alle zurück.
»In der Stadt findet eine große Hochzeit statt«, erklärte ihr einer der Soldaten. »General Muuzh heiratet eine Dame aus Basilika.«
Ohne den Grund dafür zu kennen, wußte Durstig augenblicklich, daß sie wegen dieser Hochzeit hier war.
»Dann mußt du mich einlassen«, sagte sie, »denn ich gehöre zu den geladenen Gästen.«
»Nur die Bürgerinnen und Bürger Basilikas sind zu der Hochzeit eingeladen, und auch nur die, die sich bereits in den Stadtmauern befinden. Unsere Befehle lassen keine Ausnahmen zu, nicht einmal für stillende Mütter, deren Kleinkinder sich in der Stadt befinden, nicht einmal für Ärzte, deren Patienten in der Stadt im Sterben liegen.«
»Die Überseele hat mich eingeladen«, sagte Durstig, »und aufgrund dieser Autorität hebe ich jeden Befehl auf, den euch ein Sterblicher gegeben hat.«
Der Soldat lachte, aber nur leise, denn sie hatte laut gesprochen, und die Menge am Tor beobachtete sie und lauschte ihnen. Diese Leute waren ebenfalls abgewiesen worden und würden beim geringsten Anlaß verdrossen reagieren.
»Laß sie ein«, sagte einer der Soldaten, »wenn auch nur, um die Menge ruhig zu halten.«
»Sei kein Narr«, sagte ein anderer. »Wenn wir sie einlassen, müssen wir alle einlassen.«
»Sie alle wollen, daß ich die Stadt betrete«, sagte Durstig.
Die Menge murmelte ihre Zustimmung. Durstig wunderte sich darüber — daß die Bewohner Basilikas die Überseele so deutlich hören konnten, während die Gorajni-Sol-daten taub für ihren Einfluß waren. Vielleicht war das der Grund, weshalb die Gorajni eine so böse Rasse waren, wie sie in Potokgavan gehört hatte: weil sie die Stimme der Überseele nicht hören konnten.
»Mein Gatte wartet in der Stadt auf mich«, sagte Durstig, obwohl sie erst, als sie ihre eigenen Worte hörte, auch wußte, daß sie der Wahrheit entsprachen.
»Dein Gatte wird warten müssen«, sagte ein Soldat.
»Oder sich eine Liebhaberin nehmen müssen«, sagte ein anderer, und sie lachten.
»Oder sich selbst befriedigen müssen«, sagte der erste, und sie johlten.
»Wir sollten sie einlassen«, sagte einer der Soldaten. »Was, wenn Gott sie erwählt hat?«
Augenblicklich zog einer der anderen Soldaten mit der linken Hand sein Messer und hielt es an den Hals desjenigen, der gesprochen hatte. »Du weißt, welche Warnung man uns gegeben hat. Wenn wir wollen, daß jemand die Stadt betritt, müssen wir es gerade bei dieser Person verhindern!«
»Aber sie muß dort sein«, sagte der Soldat, der für die Überseele empfänglich war.
»Sag noch ein Wort, und ich töte dich.«
»Nein!« rief Durstig. »Ich gehe. Das ist nicht das Tor für mich.«
In ihrem Inneren verspürte sie einen immer stärkeren Drang, die Stadt zu betreten; doch sie würde nicht zulassen, daß man diesen Mann tötete, weil sie trotzdem keinen Zutritt zur Stadt bekommen würde. Statt dessen zog sie das Pferd herum und ritt zurück durch die Menge, die sich vor ihr teilte. Sie schlug den steilen Pfad ein, der zum Karawanentor führte, machte sich jedoch nicht die Mühe, es am Markttor zu versuchen; sie ritt die Hohe Straße entlang, versuchte es jedoch auch nicht am Hohen Tor oder am Rauchfang-Tor. Sie führte ihr Tier schnell über den Dunklen Pfad, der sich durch tiefe Schluchten wand und dann die bewaldeten Hügel im Norden der Stadt hinaufführte, bis sie die Waldstraße erreichte — aber sie folgte ihm nicht zum Hinteren Tor hinab.
Statt dessen stieg sie ab, drang in das dichte Unterholz des Pfadlosen Waldes ein und eilte zum Privattor, von dem nur die Frauen wußten, das nur die Frauen benutzten. Es hatte sie eine Stunde gekostet, um die Stadt zu reiten, und sie hatte auch noch den langen Weg nehmen müssen — aber an der Ostmauer, die steil zu den Klippen und Abgründen hinabfiel, gab es keinen Weg, den ein Pferd hätte benutzen können, und es hätte viel länger gedauert, diese Strecke zu Fuß zurückzulegen. Nun schien der Wald selbst nach ihr zu greifen, sie festzuhalten, obwohl sie wußte, daß die Überseele jeden Schritt lenkte, den sie tat, damit sie den schnellsten Weg zum Privattor fand. Doch .selbst, nachdem sie durch dieses Tor Einlaß gefunden hatte, mußte sie noch quer durch die Stadt, und sie hörte bereits, daß die Hörner mit ihrer klagenden Serenade begangen. Die Zeremonie würde in wenigen Augenblicken beginnen, und Durstig würde nicht dort sein.
Luet bewegte sich und sprach, so langsam sie konnte, doch während sie die einzelnen Schritte der Zeremonie vollzog, blieb ihr die Möglichkeit verwehrt, das zu tun, was sie in ihrem Herzen wünschte — die Hochzeit abzubrechen und Muuzh vor den versammelten Bürgern brandzumarken. Bestenfalls würde man sie lediglich von der Plattform drängen, noch bevor sie ein Wort sagen konnte, und eine pflichtbewußtere Priesterin würde die Aufgabe übernehmen; schlimmstenfalls würde sie tatsächlich ein paar Worte über die Lippen bringen, bevor sie dann von einem Pfeil aufgehalten werden würde, und dann würden Aufruhr und Blutvergießen folgen, und Basilika würde vielleicht noch vor dem nächsten Morgen zerstört sein. Doch was würde sie damit erreichen?