Kokor war am stolzesten darauf gewesen, daß die Zeilen über die perfekte Knospe aus kurzen und einfachen Ausdrücken bestanden, während die Zeilen über die protzige Blüte lang und unbeholfen waren. Doch zu ihrer Enttäuschung hatte kein bekannter Komponist aus ihrem Aphorismus eine Arie gemacht, und die jungen, die mit ihren Melodien zu ihr kamen, waren alle talentlose Blender, die nicht die geringste Ahnung hatten, wie man eine Melodie zu schaffen hatte, die einer Stimme wie der Kokors gerecht wurde. Sie hatte nicht mal mit ihnen geschlafen, abgesehen von einem, dessen Gesicht so schüchtern und süß gewesen war. Ah, aber in der Dunkelheit war er wie ein Tiger gewesen. Sie hatte ihn drei Tage lang bei sich behalten, doch er mußte unbedingt darauf bestehen, ihr seine Melodien vorzusingen, und so hatte sie ihn schließlich wieder fortgeschickt.
Wie war noch gleich sein Name gewesen?
Er lag ihr auf der Zunge, als sie das Haus betrat und in den hinteren Räumen ein seltsames Johlen hörte. Wie von den Pavianen, die am kleinen See lebten, wie ihr Keuchen, wenn sie in ihrer Nicht-Sprache vor sich hinbrabbelten. »Oh. Huh. Oo-oh. Huuuh.«
Aber es waren keine Paviane, oder? Und das Geräusch kam aus dem Schlafzimmer, die Wendeltreppe hinauf. Mondlicht, das durch das Dachfenster fiel, erhellte Kokors Weg, als sie schnell die Treppe hinauf lief, aber leise und auf Zehenspitzen, denn sie wußte, daß sie ihren Gatten Obring mit irgendeiner Hure in Kokors Bett finden würde, und das war entsetzlich, ein Verstoß gegen jede Anstandsregel, brachte er ihr denn nicht die geringste Rücksicht entgegen? Sie hatte ihre Liebhaber niemals mit nach Hause genommen, oder? Fair war fair, und es wäre doch eine prachtvolle Szene des verletzten Stolzes, wenn sie das kleine Flittchen ohne Kleider aus dem Haus werfen würde, damit es sich nackt nach Hause schleichen mußte, und dann würde Obring sich bei ihr entschuldigen, und Kokor würde ihn zappeln lassen und sich anhören, was er sich so alles ausdachte, all seine Schwüre und Entschuldigungen und sein Wimmern, aber es bestand nicht der geringste Zweifel, sie würde den Vertrag mit ihm nicht erneuern, und er würde herausfinden müssen, was einem Mann widerfuhr, der Kokor seine Treulosigkeit ins Gesicht schleuderte.
Im mondscheinerhellten Schlafzimmer fand Kokor Obring bei genau der Aktivität vor, die sie vermutet hatte. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen oder das der Frau, der er ein leidenschaftlicher Gefährte aber, aber sie brauchte weder Tageslicht noch ein Vergrößerungsglas, um zu wissen, was es zu bedeuten hatte.
»Widerlich«, sagte sie.
Es hatte genau die Wirkung, auf die sie gehofft hatte. Sie hatten sie offensichtlich nicht die Treppe hinaufkommen hören, und der Klang ihrer Stimme ließ Obring erstarren. Einen Augenblick lang bewegte er sich nicht. Dann wandte er ihr den Kopf zu und schaute ziemlich töricht drein, als er sie traurig über die Schulter ansah. »Kjoka«, sagte er. »Du bist früher nach Hause gekommen.«
»Ich hätte es wissen müssen«, sagte die Frau auf dem Bett. Ihr Gesicht war noch immer hinter Obrings nacktem Rücken verborgen, doch Kokor erkannte die Stimme sofort. »Dein Stück ist so schlecht, daß sie es mitten in der Vorstellung abgebrochen haben.«
Kokor bekam die Beleidigung kaum mit, bemerkte kaum die Tatsache, daß Sevets Stimme nicht im geringsten peinlich berührt klang. Sie konnte nur denken: Deshalb mußte sie sich ein neues Versteck suchen, nicht, weil ihr Liebhaber eine Berühmtheit ist, sondern, weil sie die Wahrheit vor mir verbergen mußte.
»Hunderte deiner Zuschauer wären jede Nacht gern mit dir ins Bett gestiegen«, flüsterte Kokor. »Aber du mußtest meinen Gatten haben.«
»Ach,-nimm es doch nicht persönlich«, sagte Sevet und richtete sich auf die Ellbogen auf. Sevets Brüste sackten zu den Seiten. Kokor gefiel es, daß ihre Brüste an den Seiten hinabhingen, daß Sevet mit neunzehn Jahren entschieden älter und dicker war als Kokor. Doch Obring hatte diesen Körper gewollt, hatte diesen Körper auf demselben Bett benutzt, auf dem er so viele Nächte lang neben Kokors perfektem Körper geschlafen hatte. Wie konnte dieser Körper ihn überhaupt erregen, nachdem er Kokor an so vielen Morgen nach ihrem Bad gesehen hatte?
»Du hast nicht mit ihm geschlafen, und er ist sehr nett«, sagte Sevet. »Wenn du dir je die Mühe gemacht hättest, ihn zu befriedigen, hätte er mich nicht angesehen.«
»Es tut mir leid«, murmelte Obring. »Ich habe es nicht gewollt.«
Das war so ungeheuerlich, daß Kokor wie ein kleines Kind ihre Wut nicht im Zaum halten konnte. Und doch hielt sie sich zurück. Sie bewahrte ihren Zorn wie einen Wirbelsturm in einer Flasche. »Das war ein Unfall?« flüsterte Kokor. »Du bist ausgerutscht, gestolpert und gestürzt, hast dabei deine Kleider verloren und bist zufällig auf meiner Schwester zu liegen gekommen?«
»Ich meine … ich wollte einen Schlußstrich ziehen, schon seit einigen Monaten …«
»Monate«, flüsterte Kokor.
»Sag lieber nichts mehr, Kleiner«, sagte Sevet, »du machst alles nur noch schlimmer.«
»Du nennst ihn >Kleiner<?« fragte Kokor. Das war das Wort, das sie benutzt hatten, nachdem sie gerade zu Frauen geworden waren, um die halbwüchsigen Jungs zu bezeichnen, die hinter ihnen herhechelten.
»Er war so eifrig«, sagte Sevet und glitt unter Obring hervor. »Ich konnte nicht anders, ich mußte ihn einfach so nennen, und ihm gefällt der Name.«
Obring drehte sich um und saß wie ein Häufchen Elend auf dem Bett. Er machte keine Anstalten, sich zu bedecken; es war offensichtlich, daß er für diesen Abend jedes Interesse an der Liebe verloren hatte.
»Mach dir keine Sorgen, Obring«, sagte Sevet. Sie stand auf und bückte sich, um ihre Kleidung vom Boden aufzuheben. »Sie wird den Vertrag trotzdem erneuern. Sie wird nicht wollen, daß die Leute sich diese Geschichte erzählen, und deshalb wird sie erneuern, solange du willst, nur, damit du sie nicht erzählst.«
Kokor sah, wie Sevets Bauch vorstand, wie ihre Brüste schwangen, als sie sich bückte. Und doch hatte sie Kokor den Mann weggenommen. Nach allem anderen hatte sie auch das noch tun müssen. Es war nicht zu ertragen.
»Singe für mich«, flüsterte Kokor.
»Was?« fragte Sevet, drehte den Kopf und bedeckte sich mit ihrem Gewand.
»Sing mir mit deiner hübschen Stimme ein Lied, du Davalka.«
Sevet sah Kokor in die Augen, und der Ausdruck von gelangweilter Erheiterung wich von ihrem Gesicht. »Ich werde nicht singen, du kleine Närrin.«
»Nicht für mich«, sagte Kokor. »Für Vater.«
»Was ist mit Vater?« Sevets Gesichtsausdruck wandelte sich zu einem des spöttischen Mitgefühls. »Ach, wird die kleine Kjoka mich verpetzen?« Dann schnaubte sie. »Er wird dich auslachen. Und dann wird er mit Obring einen trinken gehen.«
»Ein Klagelied für Vater«, sagte Kokor.
»Ein Klagelied?« Sevet schaute jetzt verwirrt drein. Besorgt.
»Während du hier warst und es mit dem Mann deiner Schwester getrieben hast, hat jemand Vater umgebracht. Wenn du ein Mensch wärest, würde es dich betreffen. Sogar Paviane trauern um ihre Toten.«
»Ich habe es nicht gewußt«, sagte Sevet. »Wie hätte ich es wissen können?«
»Ich habe nach dir gesucht«, sagte Kokor. »Um es dir zu sagen. Aber du warst an keinem der Orte, die ich kenne. Ich habe mein Stück im Stich gelassen, ich habe meine Anstellung verloren, um dich zu suchen und es dir zu sagen, und hier warst du, und das hast du getan.«