»Herr«, sagte Nafai, »wieso bildest du dir ein, daß du zerstört worden bist? Hörst du nicht, was sie singen?«
Muuzh lauschte.
Muuzh, sagten sie. Muuzh. Muuzh. Muuzh.
»Siehst du denn nicht, daß du jetzt stärker bist denn je zuvor, obwohl du uns alle gehen läßt? Die Stadt gehört dir. Die Überseele hat sie dir gegeben. Hast du denn nicht gehört, was deine Mutter gesagt hat? Du bist der Gatte der Überseele und von Basilika.«
Muuzh hatte sie gehört, ja, doch zum ersten Mal in seinem Leben — nein, zum ersten Mal, seit er sie vor so vielen Jahren geliebt hatte, hatte er nicht sofort daran gedacht, welchen Vor- oder Nachteil ihre Worte ihm bringen könnten. Er hatte nur gedacht: Meine Liebe wurde von Gott manipuliert; meine Zukunft wurde von Gott zerstört; ich gehöre ihm, und er hat mich zugrunde gerichtet, und ich werde ihm auch weiterhin gehören.
Nun begriff er, daß Nafai recht hatte. Hatte Muuzh nicht in den letzten paar Tagen gespürt, daß Gott es sich vielleicht anders überlegt hatte und nun für ihn arbeitete? Dieses Gefühl hatte sich als richtig erwiesen. Gott wollte seine gerade erst gefundenen Töchter wegen eines unmöglichen Auftrags in die Wüste führen, doch abgesehen davon hatten Muuzh’ Pläne noch Bestand. Basilika gehörte ihm.
Muuzh hob die Hände, und die Menge — deren Gesang bereits nachgelassen hatte, in erster Linie wohl aus reiner Erschöpfung — verstummte.
»Wie groß ist die Überseele!« rief Muuzh.
Sie jubelten.
»Meine Stadt!« rief er. »Ah, meine Braut!«
Sie jubelten erneut.
Er wandte sich an die Mädchen. »Habt ihr eine Ahnung«, sagte er leise, »wie ich euch aus der Stadt bringen kann, ohne daß es so aussieht, als würde ich meine eigenen Töchter ins Exil schicken, oder als würdet ihr vor mir fliehen?«
Huschidh sah Luet an. »Die Wasser Seherin kann es.«
»Ach, vielen Dank«, sagte Luet. »Plötzlich kommt es auf mich an?«
»Ja, allerdings«, sagte Nafai. »Du kannst es.«
Luet zog die Schultern hoch, drehte sich um und ging zum Rand der Plattform. Die Menge war wieder verstummt und wartete. Luet war noch mit dem Verstärkersystem des Orchesters verbunden, doch das spielte kaum eine Rolle — die Menge war so geeint, dermaßen auf die Überseele eingestimmt, daß sie hören würde, was auch immer sie ihr sagen wollte.
»Meine Schwester und ich sind genauso erstaunt, wie ihr es seid. Wir haben niemals gewußt, wer unsere Eltern sind, denn obwohl die Überseele unser ganzes Leben lang mit uns gesprochen hat, hat sie uns nicht gesagt, daß wir ihre Töchter sind, nicht auf diese Weise, nicht so, wie ihr es gerade erfahren habt. Nun hören wir ihre Stimme, und sie ruft uns in die Wildnis. Wir müssen zu ihr gehen und ihr dienen. Doch sie gibt euch dafür ihren Gatten, unseren Vater. Sei ihm eine gute Braut, Basilika!«
Es erklang kein Jubel, nur ein lautes, summendes Gemurmel. Sie warf mit der Befürchtung, daß sie alles verdarb, einen Blick über die Schulter zurück. Doch es lag nur an ihrer Unerfahrenheit, Menschenmengen zu manipulieren — Muuzh wußte, daß sie ihre Sache gut machte. Deshalb nickte er und bedeutete ihr, sie solle fortfahren.
»Der Stadtrat hat unseren Vater bitten wollen, Konsul von Basilika zu werden. Wenn diese Entscheidung zuvor klug war, ist sie nun doppelt klug. Denn wenn die Taten der Überseele bekannt werden, werden die Nationen der ganzen Welt auf Basilika eifersüchtig sein, und dann ist es nur gut, einen solchen Mann zu haben, der der Welt gegenüber unsere Stimme sein und uns vor den Wölfen schützen wird, die uns überfallen werden!«
Nun erklang Jubel, doch er legte sich schnell wieder.
»Basilika, im Namen der Überseele, willst du Vozmuzhalnoi Vozmozhno als deinen Konsul haben?«
Das war es, erkannte Muuzh. Sie hatte ihnen endlich eine klare Frage gestellt, die sie beantworten konnten, und es war die Antwort, von der er gewußt hatte, daß sie kommen würde, ein lauter Schrei der Zustimmung aus hunderttausend Kehlen. Viel besser noch, nicht vom Stadtrat kam dieser Vorschlag, sondern die Wasserseherin bat sie, seine Herrschaft zu akzeptieren, und zwar im Namen Gottes. Wer konnte sich ihm jetzt noch widersetzen?
»Vater«, sagte sie, als der Jubel verklungen war. »Vater, wirst du eine Segnung durch die Hände deiner Töchter akzeptieren?«
Was hatte das zu bedeuten? Was hatte sie denn jetzt vor? Muuzh war einen Augenblick lang verwirrt. Bis er begriff, daß sie dies nicht für die Menge tat. Sie tat dies nicht, um die Ereignisse zu manipulieren und zu kontrollieren. Sie sprach aus ihrem Herzen; sie hatte heute einen Vater gefunden und würde ihn heute auch wieder verlieren, und deshalb wollte sie ihm zum Abschied ein Geschenk machen. Also nahm er Huschidhs Hand, und sie traten vor; er kniete zwischen ihnen nieder, und sie legten die Hände auf seinen Kopf.
»Vozmuzhalnoi Vozmozhno«, begann sie. Und dann: »Unser Vater, unser lieber Vater, die Überseele hat dich hierher gebracht, damit du diese Stadt zu ihrem Schicksal führst. Die Frauen Basilikas haben ihre Gatten Jahr für Jahr, doch die Stadt der Frauen blieb diese ganze Zeit über ehelos. Nun hat die Überseele eine Wahl getroffen, Basilika hat endlich einen würdigen Mann gefunden, und du wirst ihr einziger Gatte sein, solange diese Mauern stehen. Aber bei all den großen Ereignissen, die du sehen wirst, bei all den Menschen, die dich in den kommenden Jahren lieben und die dir folgen werden, wirst du dich an uns erinnern. Wir segnen dich, damit du dich an uns erinnerst und in der Stunde deines Todes unsere Gesichter in deiner Erinnerung siehst und die Liebe, die deine Töchter dir entgegenbringen, in deinem Herzen spürst. Es ist vollbracht.«
Sie verließen die Stadt durch das Rauchfang-Tor, und Muuzh stand neben Bitanke und Raschgallivak und verabschiedete sie mit einem militärischen Gruß. Muuzh hatte sich bereits entschlossen, Bitanke zum Kommandanten der Stadtwache zu ernennen, und Rasch würde der Gouverneur der Stadt sein, wenn Muuzh mit seinem Heer unterwegs war. Sie zogen im Gänsemarsch an ihm vorbei, und an der winkenden, weinenden und jubelnden Menge, die sich dort versammelt hatte — drei Dutzend Kamele in ihrer Karawane, beladen mit Zelten und Vorräten, Reitern und Trockenbehältern.
Das Jubeln verklang in der Ferne. Die heiße Wüstenluft schlug auf sie ein, als sie auf die Felsebene hinabstiegen, auf der die schwarzen Überreste von Muuzh’ Täuschungsfeuern noch wie die Pockennarben einer schrecklichen Krankheit sichtbar waren. Noch immer bewahrten alle ihr Schweigen, denn Muuzh’ bewaffnete Eskorte ritt neben ihnen, um sie auf ihrem Weg zu beschützen — und dafür zu sorgen, daß keiner der zögernden Reisenden umkehrte.
So ritten sie bis zum Anbruch der Dunkelheit, als Elemak entschied, wo sie die Zelte aufschlagen würden. Die Soldaten übernahmen die Arbeit für sie, doch auf Elemaks Anweisung zeigten sie vorsichtig jenen, die noch nie ein Zelt aufgeschlagen hatten, wie es gemacht wurde. Obring und Vas und die Frauen schauten entsetzt drein bei dem Gedanken, diese Arbeit demnächst selbst tun zu müssen, doch Elemak ermutigte sie, und alles lief glatt.
Doch als die Soldaten umkehrten, salutierten sie nicht Elemak, sondern der Herrin Rasa und Luet der Wasserseherin und Huschidh der Entwirrerin — und aus Gründen, die Elemak nicht einmal ansatzweise verstand, Nafai.
Sobald die Soldaten davongeritten waren, begann der Streit.
»Mögen Käfer in eure Nasen und Ohren kriechen und eure Gehirne fressen!« schrie Mebbekew Nafai an — und Rasa und alle, die in Hörweite waren. »Warum mußtet ihr mich auf diese selbstmörderische Karawane mitnehmen?«
Schedemei war nicht weniger wütend, nur ruhiger. »Ich habe nie eingewilligt, euch zu begleiten. Ich wollte euch nur lehren, wie man die Embryos wiederbelebt. Ihr hattet kein Recht, mich zu zwingen, euch zu begleiten.«