»Du bist eine Lügnerin«, sagte Sevet. »Warum sollte ich dir das glauben?«
»Ich habe es nie mit Vas getrieben«, sagte Kokor. »Nicht einmal, als er mich angebettelt hat.«
»Er hat dich nie darum gebeten«, sagte Sevet. »Ich glaube deinen Lügen nicht.«
»Er hat mir gesagt, er möchte nur einmal im Leben eine wirklich wunderschöne Frau haben. Eine Frau, deren Körper jung und geschmeidig und fest ist. Aber ich habe mich geweigert, weil du meine Schwester bist.«
»Du lügst. Er hat dich nie darum gebeten.«
»Vielleicht lüge ich. Aber er hat gefragt.«
»Nicht Vas«, sagte Sevet.
»Vas, mit dem großen Muttermal auf der Innenseite seines Schenkels«, sagte Kokor. »Ich habe ihn zurückgewiesen, weil du meine Schwester bist.«
»Du lügst. Auch das mit Vater war gelogen.«
»Tot in seinem eigenen Blut. Auf der Straße ermordet. Das ist keine gute Nacht für unsere liebende Familie. Vater tot. Ich betrogen. Und du …«
»Rühr mich nicht an.«
»Sing für ihn«, sagte Kokor.
»Bei der Beerdigung, falls du nicht gelogen hast.«
»Singe jetzt«, sagte Kokor.
»Kleine Henne, kleines Entchen, ich werde niemals auf deinen Befehl singen.«
Der Vorwurf, sie würde gackern und quaken, anstatt zu singen, war nur eine alte Stichelei zwischen ihnen, war gar nichts. Doch die Verachtung in Sevets Stimme, die Abneigung, drang zu ihr durch, füllte sie aus, bis zur Neige, war mehr, als sie ertragen konnte. Keinen Augenblick länger konnte sie den Sturm zurückhalten, der in ihr zerrte.
»Genau!« kreischte Kokor. »Auf meinen Befehl wirst du niemals singen!« Und sie holte aus wie eine Katze, doch es war keine Klaue, es war eine Faust. Sevet riß die Hände hoch, um ihr Gesicht zu schützen. Doch Kokor verspürte nicht den Drang, das Gesicht ihrer Schwester zu zeichnen. Nicht ihr Gesicht haßte sie. Nein, ihre Faust traf genau dort, wohin sie gezielt hatte, unter Sevets Kinn, traf ihre Kehle dort, wo verborgen unter dem üppigen Fleisch der Kehlkopf lag, wo die Stimme ihren Ursprung hatte.
Sevet gab kein Geräusch von sich, obwohl die Wucht des Schlages sie zurückwarf. Sie stürzte, griff sich an die Kehle; sie wand sich auf dem Boden, würgte und rang nach Atem. Obring schrie auf, sprang zu ihr und kniete neben ihr nieder. »Sevet?« rief er. »Sevet, bist du in Ordnung?«
Doch Sevets einzige Antwort bestand aus einem Gurgeln und Spucken und dann aus einem Würgen und Husten. Sie hustete Blut. Ihr eigenes Blut. Kokor sah es an Sevets Händen, an Obrings Schenkeln, als er ihren Kopf auf den Schoß nahm, um sie zu stützen. Es schimmerte schwarz im Mondschein, das Blut aus Sevets Hals. Wie schmeckt es in deinem Mund, Sevet? Wie fühlt es sich auf deiner Haut an, Obring? Ihr Blut, wie das Geschenk einer Jungfrau, mein Geschenk an euch beide.
Sevet gab ein schreckliches, ersticktes Geräusch von sich. »Wasser«, sagte Obring. »Ein Glas Wasser, Kjoka — um ihren Mund auszuspülen. Siehst du nicht, daß sie blutet? Was hast du ihr angetan?«
Kokor trat zum Waschbecken — ihrem eigenen Waschbecken — und nahm eine Tasse — ihre eigene Tasse — und gab sie, mit Wasser gefüllt, Obring, der sie ihr aus der Hand nahm und versuchte, etwas von der Flüssigkeit in Sevets Mund zu gießen. Doch Sevet würgte es hoch und spuckte es aus, rang nach Atem, erstickte an dem Blut, das in ihren Hals floß.
»Einen Arzt!« rief Obring. »Rufe einen Arzt! Bustija nebenan ist Ärztin, sie wird kommen!«
»Hilfe«, murmelte Kokor. »Komm schnell. Hilfe.« Sie sprach so leise, daß sie selbst kaum etwas verstehen konnte.
Obring sprang auf und sah sie voller Wut an. »Rühr sie nicht an«, sagte er. »Ich hole die Ärztin selbst.« Er verließ den Raum schnellen Schrittes. Jetzt war er voller Kraft. Nackt wie ein mythischer Gott, wie die Bilder des Gorajni-Imperators — der Inbegriff der Männlichkeit —, so kam Obring ihr vor, als er in die Nacht hinausging, um die Ärztin zu holen, die seiner Geliebten vielleicht das Leben retten konnte.
Kokor sah zu, wie Sevets Finger über den Boden kratzten, die Haut an ihrem Hals aufrissen, als wolle sie dort ein Luftloch graben. Sevets Augen schienen aus den Höhlen zu quellen, und Blut tropfte von ihrem Mund auf den Boden.
»Du hattest alles andere«, sagte Kokor. »Alles andere. Aber du konntest nicht einmal ihn mir überlassen.«
Sevet gurgelte. Sie betrachtete Kokor gequält und voller Entsetzen.
»Du wirst nicht sterben«, sagte Kokor. »Ich bin keine Mörderin. Ich bin keine Betrügerin.«
Aber dann kam ihr in den Sinn, daß Sevet vielleicht doch sterben würde. Bei so viel Blut in der Kehle mochte sie darin ertrinken. Und dann würde man Kokor dafür zur Verantwortung ziehen. »Niemand kann mir die Schuld geben«, sagte Kokor. »Vater ist heute nacht gestorben, und ich kam nach Hause und fand dich mit meinem Mann, und dann hast du mich verspottet — niemand wird mir die Schuld geben. Ich bin erst achtzehn, ich bin noch ein Mädchen. Und es war sowieso ein Unfall. Ich wollte dir die Augen auskratzen, habe aber danebengegriffen, das ist alles.«
Sevet würgte. Sie übergab sich auf den Boden. Es stank fürchterlich. Sie machte eine furchtbare Schweinerei — alles war schmutzig, und der Gestank würde niemals wieder verschwinden. Und wenn Sevet starb, würde man Kokor die Schuld an ihrem Tod geben. Das würde Sevets Rache sein — dieser Makel würde niemals von ihr weichen. Sevets Vergeltung — sie würde sterben, und Kokor wäre auf ewig eine Mörderin.
Na warte, ich werde es dir zeigen, dachte Kokor. Ich werde dich nicht sterben lassen. Ich werde dir sogar das Leben retten.
Und so kam es, daß Obring, als er mit der Ärztin zurückkam, Kokor über Sevet kniend vorfand, wie sie in ihren Mund atmete. Obring zog sie zur Seite, damit die Ärztin an Sevet herankam. Und als Bustija die Röhre in Sevets Hals hinabstieß, als Sevets Gesicht zu einem stummen Schlund der Qual wurde, roch Obring das Blut und das Erbrochene und sah, daß Kokors Gesicht und Gewand mit beidem befleckt waren. »Du liebst sie«, flüsterte er ihr zu, als er sie in den Arm nahm. »Du konntest sie nicht sterben lassen.«
Da klammerte sie sich weinend an ihn.
»Ich kann nicht schlafen«, sagte Luet verdrossen. »Wie kann ich träumen, wenn ich nicht schlafen kann?«
»Schon gut«, sagte Rasa. »Ich weiß selbst, was wir tun müssen. Die Überseele muß es mir nicht sagen. Smelost muß Basilika verlassen, denn wenn Huschidh recht hat, kann ich ihn jetzt nicht schützen.«
»Ich werde nicht gehen«, sagte Smelost. »Ich habe einen Entschluß gefaßt. Das ist meine Stadt, und ich werde die Konsequenzen meiner Tat tragen.«
»Liebst du Basilika?« fragte Rasa. »Dann gib Gaballufix’ Leuten nicht einen Sündenbock, auf den sie alle Schuld abwälzen können. Gib ihnen nicht die Gelegenheit, dich vor Gericht zu bringen und den Prozeß als Entschuldigung zu mißbrauchen, den Befehl über die Wächter zu übernehmen, so daß seine maskierten Soldaten die einzige Amtsgewalt in der Stadt haben.«
Smelost funkelte sie kurz an, nickte dann jedoch. »Ich verstehe«, sagte er. »Um Basilikas willen werde ich gehen.«
»Wohin?« fragte Huschidh. »Wohin kannst du ihn schicken?«
»Zu den Gorajni natürlich«, sagte Rasa. »Ich gebe dir genug Vorräte und Geld mit, daß du dich bis zu den Stellungen der Gorajni im Norden durchschlagen kannst. Und einen Brief, der erklärt, daß du den Mann gerettet hast, der … den Mann, der Gaballufix getötet hat. Sie werden wissen, was das bedeutet — sie müssen Spione haben, die ihnen verraten haben, daß Gaballufix versucht hat, Basilika zu einer Allianz mit Potokgavan zu überreden. Vielleicht stand auch Roptat mit ihnen in Kontakt.«