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»Die Medizinstudenten haben früher Männer angeheuert, die ihnen frische Leichen von den Kirchhöfen stahlen«, sagte ich und reichte Jamie mein schmutziges Halstuch, als er sich, vor Anstrengung grunzend, aus dem Loch hob. »Es war ihre einzige Möglichkeit, das Sezieren zu üben.«

»Früher?«, fragte Jamie. Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und warf mir einen schnellen, ironischen Blick zu. »Oder heutzutage?«

Glücklicherweise war es so dunkel, dass Ian nicht sehen konnte, wie ich errötete. Es war nicht mein erster Ausrutscher und würde wahrscheinlich auch nicht mein letzter sein, doch meist brachten mir diese ungeschickten Bemerkungen höchstens einmal einen fragenden Blick ein, wenn sie überhaupt jemandem auffielen. Die Wahrheit war einfach keine Möglichkeit, die irgendjemand in Betracht gezogen hätte.

»Sie tun es heutzutage wohl auch noch«, gab ich zu. Mich schauderte bei dem Gedanken, einer frisch exhumierten und unkonservierten Leiche gegenüberzustehen, an der noch der Schmutz ihres entweihten Grabes klebte. Eine einbalsamierte Leiche auf einem Edelstahltisch war zwar auch nicht besonders angenehm, doch die Förmlichkeit der Präsentation trug mit dazu bei, die zerstörerische Realität des Todes wenigstens etwas auf Abstand zu halten.

Ich atmete kräftig durch die Nase aus, um die eingebildeten wie die erinnerten Gerüche loszuwerden. Als ich wieder einatmete, füllte sich meine Nase mit dem Aroma von feuchter Erde, dem heißen Pech meiner Kiefernfackel und dem schwächeren, kühleren Duft der lebendigen Kiefer über mir.

»Sie nehmen auch arme Schlucker und Verbrecher aus den Gefängnissen.« Ian, der unseren Wortwechsel offenbar gehört hatte, ohne ihn zu verstehen, ergriff die Gelegenheit zu einer kurzen Pause. Er wischte sich über die Stirn und stützte sich auf die Schaufel.

»Papa hat mir erzählt, wie er einmal festgenommen und nach Edinburgh gebracht wurde. Er wurde im Tolbooth festgehalten. Er war mit drei anderen Männern in einer Zelle, und einer davon war ein Kerl mit Schwindsucht, der furchtbar hustete und die anderen Tag und Nacht wach hielt. Eines Nachts hörte der Husten auf, und da wussten sie, dass er tot war. Aber Papa sagte, sie waren so müde, dass sie nur noch ein Vaterunser für seine Seele beten und einschlafen konnten.«

Der Junge hielt inne und rieb sich die juckende Nase.

»Papa hat gesagt, er wurde ganz plötzlich wach, weil jemand seine Beine umklammerte und jemand anders ihn bei den Armen nahm und hochhob. Er trat um sich und schrie, und der, der seine Arme festhielt, kreischte und ließ ihn fallen, so dass er sich den Kopf auf den Steinen stieß. Er setzte sich hin, rieb sich den Schädel und stellte fest, dass er sich einem Arzt aus dem Hospital und zwei Helfern gegenübersah, die die Leiche zum Sezierraum tragen wollten.«

Ian grinste breit bei dem Gedanken und wischte sich das schweißnasse Haar aus dem Gesicht.

»Papa hat gesagt, er war sich nicht sicher, wer mehr erschrocken war, er oder die Kerle, die sich den Falschen geschnappt hatten. Er hat aber gesagt, dass der Arzt es zu bedauern schien – er meinte, mit seinem Beinstumpf hätte Papa ein interessanteres Objekt abgegeben.«

Jamie lachte und reckte die Arme, um seine Schultern zu entspannen. Seine Aufmachung, Gesicht und Oberkörper waren mit roter Erde verschmiert, sein Haar hatte er mit einem um die Stirn gebundenen Halstuch gebändigt – es ließ ihn so verwegen wie den schlimmsten Grabräuber aussehen.

»Aye, ich erinnere mich an die Geschichte«, sagte er. »Ian meinte danach, alle Ärzte wären Unholde, und wollte nichts mehr mit ihrer Zunft zu tun haben.« Er grinste mich an; ich war in meiner eigenen Zeit Ärztin – Chirurgin – gewesen, doch hier hielt man mich nur für eine weise Frau, die sich mit Kräutern auskannte.

»Glücklicherweise hab ich ja keine Angst vor dem einen oder anderen Unhold«, sagte er und beugte sich zu mir herab, um mich schnell zu küssen. Seine Lippen waren warm und schmeckten nach Ale. Ich sah die Schweißtropfen, die sich in seinen lockigen Brusthaaren verfangen hatten, und seine Brustwarzen, dunkle Knospen im schwachen Licht. Mich überlief ein Zittern, das weder von der Kälte noch von unserer unheimlichen Umgebung herrührte. Er sah es, und sein Blick traf den meinen. Er holte tief Luft, und plötzlich wurde mir bewusst, wie eng mein Mieder saß und wie schwer meine Brüste in dem schweißdurchtränkten Stoff lagen.

Jamie verlagerte leicht sein Gewicht und zupfte an seiner engsitzenden Hose herum.

»Verdammt«, sagte er leise. Er senkte den Blick und wandte sich ab, die Spur eines reumütigen Lächelns auf den Lippen.

Ich hatte nicht damit gerechnet, erkannte es aber nur zu gut. Ein plötzlicher Anflug von Lust war eine häufige, wenn auch absonderliche Reaktion auf die Gegenwart des Todes. Ein Soldat spürt ihn im Dämmerzustand nach der Schlacht, auch dem Heiler, dessen Geschäft Blut und Überlebenskampf sind, ist er vertraut. Vielleicht war Ian der Wahrheit ja näher, als ich dachte, wenn er Ärzte für Unholde hielt.

Jamies Hand berührte meinen Rücken, und ich fuhr auf. Meine flammende Fackel versprühte einen Funkenschauer. Er nahm sie mir ab und deutete auf einen Grabstein neben uns.

»Setz dich, Sassenach«, sagte er. »Du solltest nicht so lange stehen.« Ich hatte mir bei unserem Schiffbruch das linke Schienbein gebrochen, und obwohl es gut verheilt war, schmerzte das Bein manchmal noch.

»Mir geht’s gut.« Dennoch ging ich zu dem Stein hinüber und streifte Jamie im Vorbeigehen. Er strahlte Hitze aus, doch seine nackte Haut fühlte sich durch den verdunstenden Schweiß kühl an. Ich konnte ihn riechen.

Ich blickte ihn an und sah, dass er dort, wo ich seine helle Haut berührt hatte, eine Gänsehaut bekam. Ich schluckte und verdrängte das plötzliche Verlangen, mich mit ihm zu einer heftigen Paarung auf zerdrücktem Gras und nackter Erde ins Dunkel zu stürzen.

Seine Hand verweilte auf meinem Ellbogen, als er mir half, mich auf den Stein zu setzen. Rollo lag hechelnd daneben, und seine Speicheltropfen glitzerten im Fackelschein. Seine gelben Augen blickten mich an und verengten sich.

»Vergiss es«, sagte ich und kniff meinerseits die Augen zusammen. »Wenn du mich beißt, ramme ich dir meinen Schuh so tief in den Hals, dass du erstickst.«

»Wuff!«, sagte Rollo leise. Er legte seine Schnauze auf die Pfoten, doch seine haarigen Ohren waren aufgerichtet, bereit, auch das leiseste Geräusch aufzunehmen.

Der Spaten bohrte sich fast lautlos in die Erde zu Ians Füßen. Er richtete sich auf, strich sich mit dem Handrücken den Schweiß aus dem Gesicht und hinterließ dabei schwarze Streifen auf seinem Kinn. Er atmete tief aus, sah zu Jamie hoch und spielte mit hängender Zunge den Erschöpften.

»Aye, ich denke, es ist tief genug.« Jamie erhörte sein wortloses Flehen mit einem Kopfnicken. »Dann hole ich jetzt Gavin.«

Fergus runzelte angespannt die Stirn – seine Gesichtszüge leuchteten klar im Fackelschein.

»Werdet Ihr keine Hilfe brauchen, um die Leiche zu tragen?« Sein Widerstreben war nicht zu übersehen, aber immerhin hatte er das Angebot gemacht. Jamie lächelte ihm leise ironisch zu.

»Das schaffe ich schon«, sagte er. »Gavin war ein kleiner Kerl. Aber du könntest die Fackel mitnehmen, damit ich etwas sehe.«

»Ich komme mit, Onkel Jamie!« Ian krabbelte hastig aus der Grube; seine mageren Schultern glänzten vor Schweiß. »Nur falls du Hilfe brauchst«, fügte er atemlos hinzu.

»Angst, im Dunkeln allein zu bleiben?«, fragte Fergus sarkastisch. Ich hatte den Eindruck, dass ihn der Friedhof nervös machte, denn obgleich er Ian, den er als einen jüngeren Bruder betrachtete, manchmal hänselte, wurde er dabei nur selten gemein.

»Ja, habe ich«, sagte Ian schlicht. »Du nicht?«

Fergus öffnete den Mund, zog die Augenbrauen hoch, machte den Mund wieder zu und wandte sich ohne ein Wort der schwarzen Öffnung des Friedhofstores zu, durch die Jamie verschwunden war.

»Findest du nicht, dass es hier schrecklich ist, Tante Claire?«, murmelte Ian nervös. Er hielt sich dicht neben mir, als wir Fergus’ flackernder Fackel zwischen den aufragenden Steinen folgten. »Ich muss immer an die Geschichte denken, die Onkel Jamie erzählt hat. Und dass vielleicht jetzt, wo Gavin tot ist, das kalte Wesen … ich meine, glaubst du, es könnte kommen … und ihn holen?« Ein hörbares Schlucken unterbrach die Frage, und ein eisiger Finger berührte mich genau an der Wurzel meiner Wirbelsäule.