»Nein«, sagte ich etwas zu laut. Ich ergriff Ians Arm, weniger zur Stütze als vielmehr, weil er ein Wesen aus Fleisch und Blut war. »Ganz bestimmt nicht.«
Seine Haut war klamm vom verdunstenden Schweiß, aber es beruhigte mich, seinen mageren, muskulösen Arm unter meinen Fingern zu spüren. Jetzt, wo er nur halb sichtbar war, erinnerte er mich an Jamie; er war fast so groß wie sein Onkel und fast genauso stark, obwohl er noch die magere Schlaksigkeit des Heranwachsenden an sich hatte.
Dankbar tauchten wir schließlich in den kleinen Lichtkegel ein, den Fergus’ Fackel warf. Das flackernde Licht schien durch die Wagenräder und warf Schatten, die wie Spinnweben im Staub lagen. Auf der Straße war es genauso heiß wie auf dem Kirchhof, doch es kam mir irgendwie so vor, als könnte man die Luft freier und leichter atmen, wenn man nicht mehr unter den erdrückenden Bäumen stand.
Zu meiner Überraschung war Duncan immer noch wach. Er hing auf der Sitzbank des Wagens wie eine verschlafene Eule und hatte die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen. Er sang vor sich hin, hörte damit aber auf, als er uns sah. Das lange Warten schien ihn ein wenig ernüchtert zu haben; er stieg einigermaßen trittsicher vom Sitz und kam zur Rückseite des Wagens, um Jamie zu helfen.
Ich unterdrückte ein Gähnen. Ich würde froh sein, wenn wir diese traurige Pflicht hinter uns hatten und zu unserem Rastplatz unterwegs waren, auch wenn es nur ein Blätterhaufen war, den ich als Bett in Aussicht hatte.
»Ifrinn an Diabhail! A Dhia, thoir cobhair!«
»Sacrée Vierge!«
Ich fuhr auf. Es brach allgemeines Geschrei aus, die Pferde wieherten aufgeschreckt, rissen wie verrückt an ihren Beinfesseln, so dass der Wagen schwankte wie ein betrunkener Käfer.
»Wuff!«, sagte Rollo neben mir.
»Himmel!«, sagte Ian und stierte den Wagen an. »Himmel noch mal!«
Ich folgte seinem Blick und schrie auf. Aus dem Laderaum ragte eine bleiche Gestalt, die jedes Schwanken des Wagens mitmachte. Mehr konnte ich nicht sehen, denn dann brach das Chaos aus.
Rollo spannte sein Hinterteil an und schoss mit lautem Knurren durch die Dunkelheit, begleitet von Ians und Jamies Rufen und einem schrecklichen Schrei des Geistes. Hinter mir hörte ich französische Flüche, als Fergus, der auf den Kirchhof zurückrannte, im Dunkeln stolperte und über die Grabsteine stürzte.
Jamie hatte die Fackel fallen lassen; sie flackerte und zischte auf der staubigen Straße und drohte zu verlöschen. Ich fiel auf die Knie, blies sie an und versuchte verzweifelt, sie am Brennen zu halten.
Der Chor aus Rufen und Knurren schwoll zu einem Crescendo an. Ich stand auf, die Fackel in der Hand, und sah, wie Ian mit Rollo rang und versuchte, ihn von den verschwommenen Gestalten fernzuhalten, die in einer Staubwolke miteinander kämpften.
»Arrêtes, espèce de cochon!« Fergus galoppierte aus der Dunkelheit hervor und schwang den Spaten, den er geholt hatte. Niemand beachtete seinen Befehl, also trat er einen Schritt vor und ließ den Spaten mit einem dumpfen Klong! auf den Kopf des Eindringlings niedersausen. Dann schwang er sich zu Ian und Rollo herum.
»Sei du ebenfalls still!«, sagte Fergus zu dem Hund und bedrohte ihn mit dem Spaten. »Halt sofort das Maul, du nichtsnutziges Vieh, sonst schlage ich dir den Schädel ein!«
Rollo knurrte und entblößte dabei seine Zähne auf eindrucksvolle Weise, die »Na, dann komm doch!« zu sagen schien, doch Ian hinderte ihn daran, irgendwelchen Schaden anzurichten, indem er seinen Arm um den Hals des Hundes legte und alle weiteren Kommentare abwürgte.
»Wo kommt der denn her?«, fragte Ian erstaunt. Er reckte den Hals und versuchte, einen Blick auf die am Boden liegende Gestalt zu werfen, ohne Rollo loszulassen.
»Aus der Hölle«, sagte Fergus kurz. »Und von mir aus kann er sofort dorthin zurückkehren.« Er zitterte vom Schock und vor Ermüdung. Das Licht auf seinem Haken glänzte dumpf, als er sich eine dichte schwarze Locke aus den Augen strich.
»Nicht aus der Hölle, vom Galgen. Erkennst du ihn nicht?«
Jamie kam langsam auf die Füße und klopfte sich den Staub von den Kniehosen. Er atmete schwer und war voller Schmutzflecken, schien aber unverletzt zu sein. Er hob sein Halstuch auf und sah sich um, während er sich das Gesicht abwischte. »Wo ist Duncan?«
»Hier, Mac Dubh«, sagte eine rauhe Stimme von der Vorderseite des Wagens. »Den Pferden war Gavin von Anfang an nicht besonders geheuer, und sie haben sich ziemlich aufgeregt, als es plötzlich so aussah, als würde er auferstehen. Nicht«, fügte er fairerweise hinzu, »dass ich nicht auch ’nen kleinen Schrecken gekriegt hätte.« Er beäugte die Gestalt auf dem Boden missmutig und klopfte einem der scheuenden Pferde auf den Hals. »Ah, es ist doch nur irgendein Dummkopf, luaidh, Schluss jetzt mit dem Lärm, aye?«
Ich hatte Ian die Fackel gegeben und kniete mich hin, um unseren Besucher zu inspizieren. Anscheinend hatte er weiter keinen Schaden genommen, denn der Mann begann schon, sich zu regen. Jamie hatte recht: Es war der Mann, der heute früh der Hinrichtung entkommen war. Er war jung, ungefähr dreißig, muskulös und kraftvoll gebaut, und sein helles, schweißnasses Haar stand vor Dreck. Er roch nach Gefängnis und dem muffig scharfen Dunst fortgesetzter Angst. Kein Wunder.
Ich nahm ihn beim Arm und half ihm, sich aufzusetzen. Er stöhnte, griff sich an den Kopf und blinzelte im Fackelschein.
»Geht es Euch gut?«, fragte ich.
»Herzlichen Dank, Ma’am, mir ging’s schon mal besser.« Er hatte einen leichten, irischen Akzent und eine sanfte, tiefe Stimme.
Rollos Oberlippe war gerade so weit hochgezogen, dass man einen angsteinflößenden Eckzahn sehen konnte, als er dem Fremden die Schnauze in die Achsel stieß, schnüffelte, den Kopf zurückriss und explosionsartig nieste. Ein leises, zitterndes Lachen durchlief die Runde, und die Spannung ließ für einen Augenblick nach.
»Seit wann seid Ihr schon im Wagen?«, wollte Duncan wissen.
»Seit heute Mittag.« Schwankend von den Nachwirkungen des Hiebes, erhob sich der Mann umständlich auf die Knie. Er griff sich noch einmal an den Kopf und zuckte zusammen. »O Himmel! Ich bin da reingekrochen, gleich nachdem der Franzmann den alten Gavin aufgeladen hatte.«
»Wo wart Ihr vorher?«, fragte Ian.
»Unter dem Galgenkarren. Das war die einzige Stelle, von der ich dachte, da würden sie nicht nachsehen.« Er stand mühsam auf, schloss die Augen, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen, und öffnete sie wieder. Im Fackelschein waren sie blassgrün, von der Farbe seichten Seewassers. Ich sah sie von einem Gesicht zum nächsten blicken, dann blieben sie auf Jamie ruhen. Der Mann verbeugte sich, wobei er auf seinen Kopf achtgab.
»Stephen Bonnet. Euer Diener, Sir.« Er machte keine Anstalten, die Hand zur Begrüßung auszustrecken, und Jamie tat das auch nicht.
»Mr. Bonnet.« Jamie nickte mit betont ausdrucksloser Miene zurück. Mir war nicht ganz klar, wie er es fertigbrachte, ehrfurchtgebietend auszusehen, obwohl er nur eine feuchte, dreckverschmierte Kniehose anhatte, aber er schaffte es. Er betrachtete den Besucher von oben bis unten und ließ sich kein Detail seiner Erscheinung entgehen.
Bonnet war das, was man »gut gebaut« nennt, groß und kraftvoll mit gewölbtem Brustkorb und groben, aber auf eine rauhe Weise gutaussehenden Gesichtszügen. Er war ein paar Zentimeter kleiner als Jamie, stand lässig auf seinen Fußballen und hielt die Fäuste halb geballt in Bereitschaft.
Seiner leicht schiefen Nase und der kleinen Narbe an seinem Mundwinkel nach zu urteilen, waren ihm Faustkämpfe nicht neu. Die kleinen Schönheitsfehler beeinträchtigten den allgemeinen Eindruck rein körperlicher Anziehungskraft nicht; er war ein Mann, der auf Frauen wirkte. Auf manche Frauen, verbesserte ich mich, als er mir einen spekulativen Blick zuwarf.