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Sie hörte ihn Luft holen und erinnerte sich genau daran, wie es sich anfühlte, wenn sich seine Brust warm und fest unter ihren Fingern hob und senkte.

»Ich bin froh, dass du ja gesagt hast.«

Sie konnte nicht wieder einschlafen, nachdem sie aufgelegt hatte. Rastlos schwang sie die Füße aus dem Bett und tappte in die Küche des kleinen Apartments, um ein Glas Milch zu trinken. Erst als sie einige Minuten in die Tiefen des Kühlschrankes gestarrt hatte, begriff sie, dass sie nicht die Ketchupflaschen und angebrochenen Dosen sah, sondern aufrechte Steine, schwarz vor dem bleichen Himmel der Morgendämmerung.

Mit einem Ausruf der Ungeduld richtete sie sich auf und knallte die Tür zu. Sie zitterte ein wenig und rieb sich die Arme, die in der temperierten Raumluft kalt geworden waren. Impulsiv griff sie nach oben und schaltete die Klimaanlage aus, ging zum Fenster, schob es hoch und ließ die schwüle Luft der verregneten Sommernacht herein.

Sie hätte schreiben sollen. Sie hatte auch geschrieben – mehrmals, und all ihre halb vollendeten Versuche frustriert weggeworfen.

Sie wusste, warum, oder sie glaubte es zumindest. Es Roger zusammenhängend zu erklären, war etwas anderes.

Zum Teil war es schlicht der Instinkt eines verwundeten Tieres, der Drang, fortzulaufen und sich vor dem Schmerz zu verstecken. Was im letzten Jahr geschehen war, war nicht im Geringsten Rogers Schuld, und doch war er unentrinnbar darin verwickelt.

Er war hinterher so zärtlich und so lieb gewesen, hatte sie wie eine Hinterbliebene behandelt – was sie auch war. Aber was für ein seltsamer Verlust! Ihre Mutter war für immer fort, doch sicher – so hoffte sie – nicht tot. Und doch war es ähnlich gewesen wie beim Tod ihres Vaters; als glaubte man an ein Leben nach dem Tod und hoffte mit aller Kraft, dass der geliebte Mensch geborgen und glücklich war – und als müsste man dennoch Trauer, Verlust und Einsamkeit ertragen.

Ein Krankenwagen fuhr auf der anderen Seite des Parks vorbei, das rote Licht pulsierte in der Dunkelheit, die Sirene wurde durch die Entfernung gedämpft. Aus Gewohnheit bekreuzigte sie sich und murmelte: »Miserere nobis.« Schwester Marie Romaine hatte der fünften Klasse eingeschärft, dass die Toten und die Sterbenden ihre Gebete brauchten, und damit einen so starken Eindruck bei den Kindern hinterlassen, dass keins von ihnen jemals an einer Unfallstelle vorbeigehen konnte, ohne ein kurzes Gebet gen Himmel zu senden, um den Seelen derer beizustehen, die unmittelbar vor der Himmelspforte standen.

Sie betete jeden Tag für sie, ihre Mutter und ihren Vater – ihre Väter. Das war der andere Grund. Onkel Joe wusste auch, wer ihr wirklicher Vater war, doch nur Roger konnte wirklich verstehen, was geschehen war, nur Roger konnte die Steine auch hören.

Niemand erlebte so etwas, ohne davon gezeichnet zu werden. Er nicht, sie nicht. Er hatte gewollt, dass sie blieb, nachdem Claire fortgegangen war, doch sie konnte nicht.

Sie müsse hier einiges erledigen, hatte sie ihm gesagt, sich um viele Dinge kümmern, ihre Ausbildung zu Ende bringen. Das stimmte. Doch was noch wichtiger war, sie musste weg – weit weg von Schottland und seinen Steinkreisen, zurück zu einem Ort, wo ihre Wunden heilen konnten, wo sie ihr Leben wieder aufbauen konnte.

Wäre sie bei Roger geblieben, hätte sie nicht vergessen können, was geschehen war, nicht einen Moment lang. Und das war der letzte Grund, das letzte Stück ihres dreiteiligen Puzzles.

Er hatte sie beschützt, sie liebevoll umsorgt. Ihre Mutter hatte sie ihm anvertraut, und er hatte dieses Vertrauen nicht enttäuscht. Doch hatte er sich nur um sie gekümmert, um das Versprechen zu halten, das er Claire gegeben hatte – oder weil ihm wirklich etwas an ihr lag? Wie auch immer, die erdrückenden Verpflichtungen auf beiden Seiten boten keine Grundlage für eine gemeinsame Zukunft.

Falls es eine Zukunft für sie gab … und das war es, was sie ihm nicht schreiben konnte, denn wie sollte sie es sagen, ohne sich eingebildet und idiotisch anzuhören?

»Geh fort, so dass du zurückkommen und es richtig machen kannst«, murmelte sie und zog bei den Worten ein Gesicht. Der Regen prasselte immer noch herunter und kühlte die Luft so weit ab, dass sie ungehindert atmen konnte. Es war kurz vor der Dämmerung, dachte sie, doch die Luft war immer noch so warm, dass die Feuchtigkeit auf der kühlen Haut ihres Gesichtes kondensierte; es bildeten sich kleine Wassertropfen, die ihr einzeln den Hals herunterglitten und von ihrem Baumwoll-T-Shirt aufgesogen wurden.

Sie wollte, dass sie die Ereignisse des vergangenen Novembers hinter sich ließen, sie wollte einen sauberen Bruch. Wenn genug Zeit verstrichen war, konnten sie vielleicht wieder zusammenkommen. Nicht als Nebendarsteller im Lebensdrama ihrer Eltern, sondern als Schauspieler, die sich ihre Rollen selbst aussuchten.

Nein, wenn irgendetwas zwischen ihr und Roger Wakefield geschehen sollte, sollte es definitiv aus freien Stücken sein. Es sah so aus, als bekäme sie jetzt die Gelegenheit, sich zu entscheiden, und die Aussicht rief ein leises, aufgeregtes Flattern in ihrer Magengrube hervor.

Sie wischte sich mit der Hand über das Gesicht, strich die Feuchtigkeit weg und rieb sie sich ins Haar, um die wallenden Locken zu bändigen.

Sie ließ das Fenster offen, ohne sich daran zu stören, dass der Regen auf dem Boden eine Pfütze bildete. Sie fühlte sich zu unruhig, um abgeriegelt zu sein und sich von künstlicher Luft erfrischen zu lassen.

Sie schaltete die Tischlampe ein, zog ihr Lehrbuch der Analysis hervor und öffnete es. Die späte Entdeckung, welch beruhigende Wirkung die Mathematik auf sie hatte, war ein kleiner und unerwarteter Vorteil ihres Studiengangwechsels.

Als sie allein nach Boston und zur Uni zurückkehrte, hatte sie den Eindruck, Ingenieurwesen sei eine sehr viel ungefährlichere Wahl als Geschichte: solide, faktenabhängig, beruhigend unveränderbar. Vor allem kontrollierbar. Sie nahm sich einen Stift, spitzte ihn langsam – eine Vorbereitung, die sie genoss –, beugte dann den Kopf und las die erste Aufgabe.

Langsam wie immer wob die unausweichliche Logik der Summen ihr Netz in ihrem Kopf, fing alle Zufallsgedanken ein und wickelte die verwirrenden Gefühle in Seidenfäden, als wären sie Fliegen. Um die Zentralachse des mathematischen Problems spann die Logik ihr Netz, ordentlich und voller Schönheit wie das juwelenbesetzte Werk einer Radnetzspinne. Nur ein kleiner Gedanke verfing sich nicht in ihren Netzen und flatterte frei wie ein heller, winziger Schmetterling.

Ich bin froh, dass du ja gesagt hast, hatte er gesagt. Sie war es auch.

Juli 1969

»Spricht er wie die Beatles? Ich sterbe, wenn er sich anhört wie John Lennon. Du weißt, wie der redet? Das haut mich einfach um.«

»Er hört sich überhaupt nicht wie John Lennon an, verflixt und zugenäht!«, zischte Brianna. Sie warf einen vorsichtigen Blick um einen Betonpfeiler, doch der Flugsteig für Internationale Ankünfte war immer noch leer. »Kannst du jemanden aus Liverpool nicht von einem Schotten unterscheiden?«

»Nein«, sagte ihre Freundin Gayle fröhlich und schüttelte ihr blondes Haar aus. »Für mich hören sich alle Engländer gleich an. Ich könnte ihnen ewig zuhören!«

»Er ist kein Engländer. Ich habe dir doch gesagt, dass er ein Schotte ist!«

Gayle warf Brianna einen Blick zu, der deutlich besagte, dass sie ihre Freundin für verrückt hielt.

»Schottland gehört zu England, ich habe es auf der Karte nachgesehen.«

»Schottland gehört zu Großbritannien, nicht zu England.«

»Und wo ist da der Unterschied?« Gayle machte einen langen Hals und schaute um den Pfeiler. »Warum stehen wir hier hinten? Da wird er uns nie sehen.«

Brianna fuhr sich mit der Hand durch das Haar, um es zu glätten. Sie standen hinter einem Pfeiler, weil sie sich nicht sicher war, ob sie wollte, dass er sie sah. Jetzt war es aber nicht mehr zu ändern, die ersten Passagiere kamen zerzaust und mit Gepäck beladen durch die Doppeltür.