»Die Frasers sind hier!«
Panik ergriff sie, und sie umklammerte den Verschluss ihrer Handtasche.
Nein, dachte sie. O nein. Das tue ich nicht.
Dann war der Moment vorbei, und sie konnte wieder atmen, doch das Adrenalin raste immer noch durch ihre Adern.
»Die Grahams sind hier!«
»Die Innes’ sind hier!«
Die Ogilvys, die Lindsays, die Gordons … und schließlich erstarben die Echos des letzten Rufes. Brianna klammerte sich fest an die Tasche auf ihrem Schoß, als wollte sie ihren Inhalt daran hindern, wie ein Dschinn aus einer Lampe zu entfliehen.
Wie konnte sie nur?, dachte sie, und dann, als sie Roger ins Licht treten sah, Feuer im Haar, bodhran in der Hand, überlegte sie es sich anders. Was hätte sie sonst tun sollen?
Kapitel 5
Gestern in zweihundert Jahren
Du hast ja deinen Kilt gar nicht an!« Gayle verzog enttäuscht den Mund.
»Falsches Jahrhundert«, sagte Roger und lächelte auf sie herab. »Bisschen zugig für einen Spaziergang auf dem Mond.«
»Du musst mir das beibringen.«
»Was denn?«
»Wie du das R rollst.« Sie runzelte die Stirn und machte einen ernstgemeinten Versuch, der sich anhörte wie ein Motorboot im ersten Gang.
»Sehrrr gut«, sagte er und bemühte sich, nicht zu lachen. »Weiterrr so, Übung macht den Meisterrr.«
»Hast du wenigstens deine Gitarre mitgebracht?« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, ihm über die Schulter zu blicken. »Oder diese starke Trommel?«
»Die ist im Auto«, sagte Brianna, steckte die Schlüssel ein und stellte sich neben Roger. »Wir fahren danach direkt zum Flughafen.«
»Ach schade; ich dachte, wir könnten nachher noch ein bisschen rumhängen und singen. Kennst du ›This Land is your Land‹, Roger? Oder stehst du mehr auf Protestsongs? Na ja, wahrscheinlich nicht, weil du ja Engländer – huch, ich meine, Schotte bist. Bei euch gibt’s doch nichts zu protestieren, oder?«
Brianna warf ihrer Freundin einen leicht entnervten Blick zu. »Wo ist Onkel Joe?«
»Im Wohnzimmer, er traktiert den Fernseher mit den Füßen«, sagte Gayle. »Soll ich Roger bei Laune halten, während du ihn suchst?« Sie hängte sich bei Roger ein und klimperte mit den Wimpern.
»Ich habe die halbe Technik-Uni von Massachusetts hier, und keiner kann den bescheuerten Fernseher in Gang bringen?« Dr. Joseph Abernathy warf den Jugendlichen, die grüppchenweise in seinem Wohnzimmer verstreut waren, anklagende Blicke zu.
»Du meinst Elektrotechnik, Paps«, erklärte ihm sein Sohn überlegen. »Wir studieren Maschinenbau. Einen Maschinenbauingenieur zu bitten, dir deine Glotze zu reparieren, ist so, als wolltest du, dass sich ein Gynäkologe die wunde Stelle an deinem Schwa– au!«
»Oh, tut mir leid«, sagte sein Vater und blickte ungerührt über den Rand seines goldenen Brillengestells. »War das dein Fuß, Lenny?«
Unter allgemeinem Gelächter hüpfte Lenny auf einem Bein durchs Zimmer und umklammerte Fuß und Turnschuh in gespielter Agonie.
»Brianna, Schätzchen!« Der Doktor erblickte sie, strahlte übers ganze Gesicht und überließ den Fernseher seinem Schicksal. Er umarmte sie stürmisch, ohne sich im Geringsten daran zu stören, dass sie ihn um gute zehn Zentimeter überragte. Dann ließ er sie wieder los und sah Roger an. Seine Gesichtszüge hatten einen Ausdruck wachsamer Höflichkeit angenommen.
»Ist das dein Freund?«
»Das ist Roger Wakefield«, sagte Brianna und warf dem Doktor einen Blick aus leicht zusammengekniffenen Augen zu. »Roger, Joe Abernathy.«
»Guten Tag, Dr. Abernathy.«
»Sagen Sie Joe zu mir.«
Sie begrüßten sich mit einem abwägenden Handschlag. Der Doktor musterte ihn von oben bis unten. Aus seinen braunen Augen sprach bei aller Wärme sehr viel Scharfsinn.
»Brianna, Schätzchen, kannst du mal Hand an diese Schrottkiste legen und nachsehen, ob du sie wieder zum Leben erwecken kannst?« Er wies mit dem Daumen auf das 24-Zoll-Gerät, das stumm auf der Fernsehbank stand. »Gestern Abend hat er noch wunderbar funktioniert, und heute … pffft!«
Brianna warf dem großen Farbfernseher einen zweifelnden Blick zu, suchte in ihrer Jeanstasche herum und brachte ein Schweizer Armeemesser zum Vorschein.
»Also, ich kann mir ja mal die Kontakte ansehen.« Sie klappte den Schraubenzieher auf. »Wie viel Zeit haben wir noch?«
»Eine halbe Stunde vielleicht«, rief ein Student mit Bürstenschnitt. Er sah zu der Gruppe hinüber, die sich um das kleine Schwarzweißgerät auf dem Küchentisch drängte. »Wir sind immer noch im Kontrollzentrum in Houston – geschätzte Landungszeit in vierunddreißig Minuten.« Die aufgeregte Stimme des TV-Kommentators durchdrang nur ab und zu die lebhaftere Aufregung seiner Zuschauer.
»Gut, gut«, sagte Dr. Abernathy. Er legte seine Hand auf Rogers Schulter. »Also reichlich Zeit für einen Drink. Mögen Sie Scotch, Mr. Wakefield?«
»Sagen Sie Roger.«
Abernathy goss einen großzügigen Schuss bernsteinfarbenen Nektars ein und gab ihm das Glas.
»Sie werden wohl kein Wasser nehmen, oder, Roger?«
»Nein.« Es war Lagavulin; erstaunlich, diese Marke in Boston zu finden. Er probierte ihn anerkennend, und der Doktor lächelte.
»Ich habe ihn von Claire – Briannas Mama. Das war mal eine Frau mit einem guten Whiskygeschmack.« Er schüttelte sinnierend den Kopf und hob sein Glas zum Zeichen seiner Hochachtung.
»Slàinte«, sagte Roger und neigte sein Glas, bevor er davon trank.
Abernathy schloss in stummer Anerkennung die Augen – ob für den Whisky oder die Frau, das konnte Roger nicht sagen.
»Wasser des Lebens, was? Ich glaube gern, dass diese Sorte hier Tote wieder lebendig machen könnte.« Mit ehrfürchtigen Händen stellte er die Flasche zurück in das Barfach.
Wieviel hatte Claire Abernathy erzählt? Genug, vermutete Roger. Der Doktor hob sein Glas und warf ihm einen abschätzenden Blick zu.
»Da Briannas Vater tot ist, habe ich wohl die Ehre. Ob wohl genug Zeit bleibt, Sie gründlich auszuquetschen, bevor sie landen, oder sollen wir es kurz machen?«
Roger zog eine Augenbraue hoch.
»Ihre Absichten«, half der Doktor nach.
»Oh. Völlig ehrenhaft.«
»Ach ja? Ich habe Brianna gestern Abend noch angerufen, um sie zu fragen, ob sie heute kommt. Keine Antwort.«
»Wir waren bei einem keltischen Festival in den Bergen.«
»Soso. Ich habe noch einmal angerufen, um elf. Um Mitternacht. Keine Antwort.« Die Augen des Doktors blickten immer noch scharfsinnig, jedoch beträchtlich weniger warm. Er stellte sein Glas mit einem leisen Klicken ab.
»Brianna ist allein«, sagte er. »Und sie ist einsam. Und sie ist ein wunderbarer Mensch. Ich möchte nicht, dass jemand das ausnutzt, Mr. Wakefield.«
»Ich auch nicht – Dr. Abernathy.« Roger leerte sein Glas und stellte es mit Nachdruck hin. Seine Wangen brannten, und daran war nicht der Lagavulin schuld. »Wenn Sie glauben, dass ich –«
»HIER HOUSTON«, dröhnte der Fernseher. »TRANQUILITY BASE, LANDUNG IN ZWANZIG MINUTEN.«
Die Gäste schwenkten Colaflaschen und spendeten Beifall, während sie aus der Küche strömten. Brianna lachte, rot vor Anstrengung, und wies die Glückwünsche von sich, während sie das Messer einsteckte. Abernathy legte eine Hand auf Rogers Arm, um ihn an seiner Seite zu halten.
»Hören Sie mir gut zu, Mr. Wakefield«, sagte Abernathy so leise, dass ihn die Studenten nicht hören konnten. »Dass mir nur nicht zu Ohren kommt, Sie hätten das Mädchen unglücklich gemacht. Nie.«
Roger löste seinen Arm vorsichtig aus dem Griff des anderen.
»Finden Sie, dass sie unglücklich aussieht?«, fragte er, so höflich er konnte.