»Nein«, sagte Abernathy, verlagerte sein Gewicht auf seine Absätze und schaute ihn scharf an. »Im Gegenteil. Es ist die Art, wie sie heute Abend aussieht, die mich darauf bringt, dass ich Ihnen vielleicht an Stelle ihres Vaters eine verpassen sollte.«
Roger drehte sich automatisch um und sah sie ebenfalls an. Es stimmte. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, kleine Haarsträhnen waren aus ihrem Pferdeschwanz entwischt, und ihre Haut glühte wie das Wachs einer brennenden Kerze. Sie sah aus wie eine Frau, die eine lange Nacht hinter sich hatte – und sie genossen hatte.
Als spürte sie ihn per Radar, wandte sie den Kopf und sah ihn über Gayles Kopf hinweg an. Sie redete weiter mit Gayle, doch ihre Augen sprachen direkt zu ihm.
Der Doktor räusperte sich laut. Roger riss sich von ihr los und stellte fest, dass Abernathy nachdenklich zu ihm aufsah.
»Ach«, sagte der Doktor in einem ganz anderen Tonfall. »So ist das also.«
Rogers Hemdkragen stand offen, doch er fühlte sich, als trüge er eine zu fest gebundene Krawatte. Er sah den Doktor direkt an.
»Ja«, sagte er, »so ist das.«
Dr. Abernathy griff nach der Flasche Lagavulin und füllte beide Gläser.
»Claire hat ja auch gesagt, Sie wären ihr sympathisch«, sagte er resigniert. Er hob sein Glas. »Okay. Slaìnte.«
»In die andere Richtung – Walter Cronkite ist ja ganz orange!« Lenny Abernathy drehte gehorsam den Regler, woraufhin sich der Kommentator grün verfärbte. Cronkite redete weiter, ohne sich an seinem plötzlichen Teintwechsel zu stören.
»In ungefähr zwei Minuten werden Commander Neil Armstrong und die Mannschaft von Apollo 11 mit der ersten bemannten Landung auf dem Mond in die Geschichte eingehen …«
Das Wohnzimmer war abgedunkelt und voller Menschen, die gebannt auf den großen Fernseher starrten, wo jetzt Aufnahmen vom Start der Apollo-Rakete gezeigt wurden.
»Ich bin beeindruckt«, flüsterte Roger Brianna ins Ohr. »Wie hast du das hingekriegt?« Er hatte sich an das Seitenteil eines Bücherregals gelehnt und sie eng zu sich gezogen. Seine Hände ruhten auf der Rundung ihrer Hüften, sein Kinn auf ihrer Schulter.
Ihre Augen waren auf den Fernseher gerichtet, doch er spürte, wie sich ihre Wange an der seinen bewegte.
»Jemand hat den Stecker rausgezogen«, sagte sie. »Ich habe ihn nur wieder in die Steckdose gesteckt.«
Er lachte und küsste sie auf den Hals. Obwohl die Klimaanlage brummte, war es heiß im Zimmer, und ihre Haut war feucht und salzig.
»Du hast den rundesten Arsch der Welt«, flüsterte er. Sie antwortete nicht, schob aber ihren Hintern noch dichter an ihn heran.
Vom Fernseher rauschende Stimmen und Bilder der Flagge, die die Astronauten auf dem Mond aufpflanzen würden.
Er blickte durchs Zimmer, doch Joe Abernathy war genauso hypnotisiert wie alle anderen, sein Gesicht gebannt im Glühen des Fernsehschirms. Im Schutz der Dunkelheit legte er die Arme um Brianna, spürte ihre Brüste als weiche Gewichte auf seinem Unterarm. Mit einem tiefen Seufzer lehnte sie sich an ihn, legte ihre Hand auf die seine und drückte sie fest.
Hätte dabei irgendeine Gefahr bestanden, wäre keiner von ihnen so mutig gewesen. Doch in zwei Stunden musste er aufbrechen, sie würden keine Gelegenheit haben, weiter zu gehen. Letzte Nacht hatten sie gewusst, dass sie mit dem Feuer spielten, und waren vorsichtiger gewesen. Er fragte sich, ob Abernathy ihn wohl wirklich geschlagen hätte, wenn er zugegeben hätte, dass Brianna die Nacht in seinem Bett verbracht hatte.
Er war den Berg heruntergefahren, hin- und hergerissen zwischen seinen Bemühungen, auf der richtigen Straßenseite zu bleiben, und dem aufregenden Gefühl, dass Briannas Gewicht sanft gegen ihn gepresst war. Sie hatten eine Kaffeepause gemacht, sich bis nach Mitternacht unterhalten, wobei sie einander ständig berührt hatten: Hände, Oberschenkel, Köpfe ganz nah aneinander. Mitten in der Nacht waren sie nach Boston weitergefahren. Das Gespräch erstarb, und dann lag Briannas Kopf schwer auf seinen Schultern.
Weil er zu müde war, um im Gewirr der unbekannten Straßen den Weg zu ihrer Wohnung zu suchen, war er zu seinem Hotel gefahren, hatte sie die Treppe hochgeschmuggelt und sie auf sein Bett gelegt, wo sie innerhalb von Sekunden eingeschlafen war.
Er selbst hatte den Rest der Nacht auf dem harten Boden verbracht, und Briannas Strickjacke hatte ihm die Schultern gewärmt. In der Dämmerung war er aufgestanden, hatte sich in den Sessel gesetzt, umhüllt von ihrem Geruch, und stumm zugesehen, wie sich das Licht über ihr schlafendes Gesicht breitete.
Ja, so war das.
»Tranquility Base … der Adler ist gelandet.« Die Stille im Zimmer wurde von einem tiefen, kollektiven Seufzer unterbrochen, und Roger spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten.
»Ein … kleiner … Schritt für einen Menschen«, sagte die blecherne Stimme, »ein Riesensprung für die Menschheit.« Das Bild war voller Schnee, doch das lag nicht am Fernseher. Köpfe reckten sich, begierig, die plumpe Gestalt zu sehen, die vorsichtig die Leiter herunterstieg und zum ersten Mal den Fuß auf den Mond setzte. Ein Mädchen hatte Tränen auf den Wangen, die im Licht des Fernsehers silbern glänzten.
Selbst Brianna hatte alles andere vergessen. Ihre Hand war von seinem Arm gefallen, und sie beugte sich vor, im Augenblick gefangen.
Einen Augenblick lang kamen ihm Zweifel, als er sie alle so gebannt sah, so durch und durch stolz, und Brianna so ganz Teil davon. Es war ein anderes Jahrhundert, gestern in zweihundert Jahren.
Ob es eine gemeinsame Grundlage für sie gab, einen Historiker und eine Ingenieurin? Obwohl sein Blick auf die Geheimnisse der Vergangenheit gerichtet war und ihrer in die Zukunft mit ihrem blendenden Glanz?
Dann löste sich die Spannung im Raum in Beifallsrufe und Geplauder auf, und er dachte, dass es vielleicht keine Rolle spielte, dass sie in entgegengesetzte Richtungen blickten – solange sie einander ansahen.
Dritter Teil
Piraten
Kapitel 6
Begegnung mit einer Hernie
Juni 1767
Ich hasse Schiffe«, sagte Jamie und biss die Zähne zusammen. »Ich verabscheue Schiffe. Mir grrraut vor Schiffen.«
Jamies Onkel, Hector Cameron, lebte auf einer Plantage namens River Run kurz hinter Cross Creek. Cross Creek wiederum lag von Wilmington aus gesehen ein gutes Stück stromaufwärts, genauer gesagt, an die zweihundert Meilen. Um diese Jahreszeit, so hatte man uns gesagt, würde die Fahrt auf dem Wasserweg vier Tage bis eine Woche dauern; es hing von den Windverhältnissen ab. Wenn wir dem Landweg den Vorzug gäben, wären wir zwei Wochen unterwegs – oder länger, wenn die Straßen überflutet und schlammig waren oder wir einen Achsenbruch hatten.
»Auf einem Fluss gibt es keinen Wellengang«, sagte ich. »Und bei der Vorstellung, zweihundert Meilen durch den Schlamm zu waten, grrrraut mir weitaus mehr.« Ian grinste breit, setzte aber schnell eine unbeteiligte Miene auf, als Jamies erboster Blick auf ihn fiel.
»Außerdem«, sagte ich zu Jamie, »habe ich ja meine Nadeln, falls du seekrank wirst.« Ich strich über meine Tasche, in der ein Satz winziger goldener Akupunkturnadeln in einem Elfenbeinkästchen ruhte.
Jamie atmete tief durch die Nase aus, sagte aber nichts mehr. Nachdem diese Kleinigkeit ausdiskutiert war, blieb uns noch das Hauptproblem: die Kosten für die Schiffsreise.
Wir waren nicht reich, waren aber durch einen glücklichen Zufall unterwegs zu etwas Geld gekommen. Wir waren wie Landstreicher von Charleston nach Norden gezogen und hatten nachts in sicherer Entfernung von der Straße gelagert. Dabei hatten wir ein verlassenes Gehöft auf einer Waldlichtung entdeckt, die schon fast wieder überwuchert war.