Im selben Moment erscholl ein Schrei aus der Menge, und eine Welle der Aufregung breitete sich aus. Köpfe drehten sich, und die Zuschauer drängten gegeneinander, um etwas zu sehen, wo es nichts zu sehen gab.
»Weg ist er!«
»Da ist er!«
»Haltet ihn!«
Es war der dritte Gefangene, der hochgewachsene junge Mann, der den Augenblick von Gavins Tod dazu benutzt hatte, um sein Leben zu rennen. Er hatte sich an der Wache vorbeigeschlichen, die auf ihn hätte aufpassen sollen, sich aber der Faszination des Galgens nicht hatte entziehen können.
Ich sah eine kurze Bewegung hinter einer Bude, ein Aufblitzen ungewaschener, blonder Haare. Einige der Soldaten sahen es ebenfalls und liefen dorthin, doch viele hasteten auch in andere Richtungen, und in der allgemeinen Verwirrung erreichten sie gar nichts.
Der Hauptmann der Wache brüllte mit hochrotem Gesicht, doch seine Stimme war in dem Aufruhr kaum zu hören. Der letzte Gefangene, der ein verblüfftes Gesicht machte, wurde ergriffen und zum Quartier der Wache zurückverfrachtet, während die Rotröcke hastig begannen, unter der peitschenden Stimme ihres Hauptmanns ordentliche Aufstellung einzunehmen.
Jamie schlang seinen Arm um meine Taille und brachte mich vor einer anrollenden Woge von Menschen in Sicherheit. Soldatentrupps rückten an, formierten sich und marschierten schnellen Schrittes davon, um die Umgebung unter dem grimmigen und zornbebenden Kommando ihres Sergeanten zu durchkämmen, und die Menge wich vor ihnen zurück.
»Wir sollten Ian suchen«, sagte Jamie, während er eine Gruppe aufgeregter Lehrjungen verscheuchte. Er sah Fergus an und deutete auf den Galgen und seine traurige Bürde. »Sag, dass wir die Leiche haben wollen, aye? Wir treffen uns nachher im Willow Tree.«
»Meinst du, sie kriegen ihn?«, fragte ich, während wir uns durch das abflauende Gedränge schoben und durch eine kopfsteingepflasterte Gasse zu den Lagerhäusern der Handelsleute gingen.
»Ich denke schon. Wo sollte er denn hin?« Er klang abwesend, und ich sah eine dünne Linie zwischen seinen Augenbrauen. Seine Gedanken waren ganz offensichtlich noch bei dem Toten, und er hatte für die Lebenden nicht viel Aufmerksamkeit übrig.
»Hatte Hayes irgendwelche Verwandten?«, fragte ich. Er schüttelte den Kopf.
»Das habe ich ihn auch gefragt, als ich ihm den Whisky brachte. Er meinte, einer seiner Brüder könnte noch leben, hatte aber keine Ahnung, wo. Der Bruder war kurz nach dem Aufstand deportiert worden – nach Virginia, meinte Hayes, hat aber seitdem nie wieder von ihm gehört.«
Kein Wunder – ein Zwangsarbeiter hätte keine Möglichkeit gehabt, mit seinen Verwandten in Schottland in Verbindung zu treten, es sei denn, sein Herr war so großzügig, für ihn einen Brief dorthin zu schicken. Und großzügig oder nicht, es war unwahrscheinlich, dass ein solcher Brief Gavin Hayes erreicht hätte, denn er hatte zehn Jahre im Gefängnis von Ardsmuir verbracht, bevor er ebenfalls deportiert wurde.
»Duncan!«, rief Jamie, und ein hochgewachsener, dünner Mann drehte sich um und hob als Erwiderung seine Hand. Er wand sich durch die Menge, wobei er sich die Leute vom Leib hielt, indem er seinen Arm in weitem Bogen schwang.
»Mac Dubh«, sagte er und begrüßte Jamie mit einem Kopfnicken. »Mrs. Claire.« Sein langes, schmales Gesicht war von Traurigkeit durchfurcht. Auch er hatte als Gefangener in Ardsmuir gesessen, zusammen mit Hayes und Jamie. Nur die Tatsache, dass er seinen Arm durch eine Blutvergiftung verloren hatte, hatte verhindert, dass er mit den anderen deportiert wurde. Da man ihn nicht als Arbeiter verkaufen konnte, hatte man ihn begnadigt und dem Hunger überlassen – bis Jamie ihn gefunden hatte.
»Möge der arme Gavin in Frieden ruhen«, sagte Duncan und schüttelte leidvoll den Kopf.
Jamie murmelte eine Antwort auf Gälisch und bekreuzigte sich. Dann richtete er sich auf und schüttelte mit sichtbarer Anstrengung die bedrückende Atmosphäre ab.
»Aye, gut. Ich muss zu den Docks gehen und Ians Überfahrt arrangieren, und dann können wir uns um Gavins Begräbnis kümmern. Aber erst muss ich den Jungen unterbringen.«
Wir kämpften uns durch das Gewühl zu den Docks voran, zwängten uns zwischen Grüppchen aufgeregter Klatschmäuler hindurch und wichen den Fuhrwerken und Handkarren aus, die mit dem behäbigen Gleichmut von Handel und Wandel durchs Gedränge fuhren.
Eine Reihe rotberockter Soldaten kam im Laufschritt vom anderen Ende des Kais und zerteilte die Menge, wie wenn man Essig auf Mayonnaise träufelt. Die Sonne glänzte heiß auf ihren Bayonettspitzen, und der Rhythmus ihres Trotts klang im Lärmen der Menge wie eine gedämpfte Trommel. Sogar die rumpelnden Gespanne und Karren hielten abrupt an, um sie vorbeizulassen.
»Pass auf deine Tasche auf, Sassenach«, murmelte Jamie mir ins Ohr und schob mich durch die enge Lücke zwischen einem Turban tragenden Sklaven, der zwei kleine Kinder umklammert hielt, und einem Straßenprediger, der auf einer Kiste thronte. Er schrie Sodom und Gomorrha, aber bei dem Lärm konnte man nur jedes dritte Wort verstehen.
»Ich habe sie zugenäht«, sagte ich und griff trotzdem nach dem kleinen Gewicht, das an meinem Oberschenkel baumelte. »Was ist mit deiner?«
Er grinste und schob seinen Hut hoch. Seine dunkelblauen Augen blinzelten in das gleißende Sonnenlicht.
»Die ist da, wo ich den Sporran tragen würde, wenn ich einen hätte. Solange mir keine Hure mit langen Fingern begegnet, kann mir nichts passieren.«
Ich blickte auf die leicht ausgebeulte Vorderseite seiner Kniehose und sah dann zu ihm hoch. Er war breitschultrig und hochgewachsen, und mit seinen ausgeprägten, kühnen Gesichtszügen und der stolzen Haltung des Highlanders zog er die Blicke aller Frauen auf sich, an denen er vorbeiging – und das, obwohl sein leuchtendes Haar unter einem nüchternen blauen Dreispitz verborgen war. Die Kniehose war eine Leihgabe und viel zu eng, was den allgemeinen Effekt nicht im Geringsten minderte – und verstärkt wurde er noch dadurch, dass er selbst sich dessen nicht bewusst war.
»Du bist eine wandelnde Einladung für Huren«, sagte ich. »Bleib in meiner Nähe, ich beschütze dich.«
Er lachte und nahm mich beim Arm, als wir auf einen kleinen, freien Platz hinaustraten.
»Ian!«, rief er, als er seinen Neffen über die Köpfe der Menschenmenge hinweg erblickte. Einen Augenblick später tauchte ein hochgewachsener, sehniger Bauernlümmel aus der Menge auf, schob sich ein braunes Haarbüschel aus den Augen und grinste breit.
»Ich dachte schon, ich würd dich nie finden, Onkel Jamie!«, rief er aus. »Himmel, hier gibt’s ja mehr Leute als am Lawnmarket in Edinburgh!« Er wischte sich mit dem Hemdsärmel über sein langes, unscheinbares Gesicht und hinterließ einen Schmutzstreifen auf der einen Wange.
Jamie beäugte seinen Neffen misstrauisch.
»Dein Frohsinn scheint mir ein bisschen fehl am Platz, Ian, wenn man bedenkt, dass du gerade einen Mann hast sterben sehen.«
Ian änderte hastig seine Miene und bemühte sich, den angemessenen Ernst an den Tag zu legen.
»O nein, Onkel Jamie«, sagte er. »Ich war nicht bei der Hinrichtung.« Duncan zog eine Augenbraue hoch, und Ian errötete leicht. »Ich – ich hatte keine Angst zuzuschauen, aber es war so, ich … hatte etwas anderes vor.«
Jamie zeigte die Spur eines Lächelns und klopfte seinem Neffen auf den Rücken.
»Mach dir keine Sorgen, Ian, ich wäre lieber auch nicht dabei gewesen, aber Gavin war nun mal mein Freund.«
»Das weiß ich, Onkel Jamie. Tut mir leid.« Mitgefühl blitzte in den braunen Augen des Jungen auf, das Einzige in seinem Gesicht, was man mit Fug und Recht schön nennen konnte. Er sah mich an. »War es schlimm, Tante Claire?«
»Ja«, sagte ich. »Aber es ist vorbei.« Ich zog mir das feuchte Taschentuch aus dem Ausschnitt und stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihm den Flecken von der Wange zu wischen.
Duncan Innes schüttelte traurig den Kopf. »Aye, armer Gavin. Aber immer noch ein schnellerer Tod als Verhungern, und etwas anderes wäre ihm kaum übriggeblieben.«