»Lasst uns gehen«, unterbrach Jamie, dem der Sinn nicht nach nutzlosem Lamentieren stand. »Die Bonnie Mary dürfte fast am anderen Ende des Kais liegen.« Ich sah, wie Ian Jamie einen Blick zuwarf und sich aufrichtete, als wollte er etwas sagen, doch Jamie hatte sich schon zum Hafen umgedreht und schob sich durch das Gedränge. Ian sah mich an, zuckte die Achseln und bot mir seinen Arm.
Wir folgten Jamie an den Lagerhäusern vorbei, die die Docks säumten, und wichen dabei Matrosen, Trägern, Sklaven, Passagieren, Käufern und Verkäufern aller Art aus.
Charleston war ein bedeutender Hafen, und das Geschäft blühte. In einer Saison sah man dort bis zu hundert Schiffe, die aus Europa eintrafen oder dorthin aufbrachen.
Die Bonnie Mary gehörte einem Freund von Jamies Vetter Jared, der nach Frankreich emigriert war, um sich dort als Weinhändler zu versuchen, und ein Vermögen verdient hatte. Mit etwas Glück konnte man vielleicht den Kapitän der Bonnie Mary überreden, Ian um Jareds willen mit zurück nach Edinburgh zu nehmen, wenn er dafür als Schiffsjunge arbeitete.
Ian war von dieser Aussicht nicht begeistert, aber Jamie war fest entschlossen, seinen auf Abwege geratenen Neffen bei nächster Gelegenheit nach Schottland zurückzubefördern. Es war unter anderem die Nachricht gewesen, dass die Bonnie Mary in Charleston lag, die uns von Georgia hierhergeführt hatte. Dort hatten wir zwei Monate zuvor – zufällig – zum ersten Mal amerikanischen Boden betreten.
Wir kamen an einem Wirtshaus vorbei, und gerade in diesem Moment trat eine schmuddelige Dienstmagd mit einer Schüssel Küchenabfälle nach draußen. Sie erblickte Jamie und hielt inne, setzte die Schüssel auf ihrer Hüfte ab, sah ihn von der Seite an und lächelte ihn mit einem Schmollmund an. Er ging zielstrebig weiter, ohne ihr auch nur einen Blick zu gönnen. Sie warf den Kopf zurück, schüttete dem Schwein, das neben der Schwelle schlief, die Essensreste hin und rauschte wieder hinein.
Er blieb stehen und hielt sich die Hand über die Augen, um an der Reihe der hoch aufragenden Schiffsmasten entlangzusehen. Ich stellte mich neben ihn. Er zupfte unwillkürlich an der Vorderseite seiner engen Kniehose, und ich ergriff seinen Arm.
»Familienjuwelen noch in Sicherheit?«, murmelte ich.
»Unbequem, aber in Sicherheit«, versicherte er mir. Er rupfte an den Schnüren seines Hosenschlitzes und zog eine Grimasse. »Hätte sie mir aber doch besser in den Hintern gesteckt, glaube ich.«
»Lieber du als ich«, sagte ich lächelnd. »Da riskiere ich es doch lieber, ausgeraubt zu werden.«
Bei den Familienjuwelen handelte es sich tatsächlich um Edelsteine. Ein Hurrikan hatte uns an die Küste von Georgia getrieben, wo wir durchnässt, zerlumpt und mittellos gestrandet waren – bis auf eine Handvoll großer, wertvoller Edelsteine.
Ich hoffte, dass der Kapitän der Bonnie Mary Jared Fraser genügend schätzte, um Ian als Schiffsjungen zu nehmen, denn sonst würde uns die Überfahrt in Schwierigkeiten bringen.
Theoretisch enthielten Jamies und meine Taschen ein beträchtliches Vermögen. Praktisch nutzten uns die Steine nicht mehr als Strandkiesel. Edelsteine waren zwar eine gute Lösung, wenn man Reichtum transportieren wollte, doch war es ein Problem, sie wieder zu Geld zu machen.
Die meisten Geschäfte in den südlichen Kolonien liefen über Tauschhandel ab, und der Rest funktionierte entweder über Interimsscheine oder Wechsel, die auf einen reichen Kaufmann oder Bankier ausgestellt waren. Und reiche Bankiers waren in Georgia nicht gerade dicht gesät, schon gar nicht solche, die daran interessiert waren, ihr verfügbares Kapital in Edelsteinen anzulegen. Der wohlhabende Reisfarmer in Savannah, der uns aufgenommen hatte, hatte uns versichert, er selbst könne keine zwei Pfund Sterling in bar zusammenkratzen – wahrscheinlich existierten in der ganzen Kolonie keine zehn Pfund in Gold oder Silber.
Und natürlich hatte sich auch in den endlosen Marschlandschaften und Kiefernwäldern, durch die wir auf unserem Weg nach Norden gekommen waren, keine Gelegenheit ergeben, einen der Steine zu verkaufen. Charleston war die erste Stadt an unserem Weg, die groß genug war, um Kaufleute und Bankiers zu beherbergen, die uns vielleicht helfen konnten, einen Teil unserer eingefrorenen Vermögenswerte zu liquidieren.
Wobei es eigentlich unwahrscheinlich war, dass in Charleston im Sommer irgendetwas lange gefroren blieb, dachte ich. Der Schweiß lief mir in Rinnsalen den Hals herunter, und das Leinenhemd unter meinem Mieder lag durchnässt und zerknittert auf meiner Haut. Selbst so nah am Hafen wehte zu dieser Tageszeit kein Wind, und die Gerüche von heißem Teer, totem Fisch und schwitzenden Arbeitern waren nahezu überwältigend.
Trotz ihrer Proteste hatte Jamie darauf bestanden, Mr. und Mrs. Olivier einen unserer Edelsteine als Dank für ihre Gastfreundschaft zu schenken, denn sie waren so großzügig gewesen, uns aufzunehmen, als wir quasi vor ihrer Haustür Schiffbruch erlitten. Dafür hatten sie uns mit einem Wagen, zwei Pferden, frischer Reisekleidung, Proviant für den Weg nach Norden und einem kleinen Geldbetrag ausgestattet.
Davon hatte ich noch sechs Schillinge und drei Pennies in meiner Tasche, die unsere gesamte Barschaft darstellten.
»Da lang, Onkel Jamie«, sagte Ian. Er drehte sich um und gestikulierte seinem Onkel lebhaft zu. »Ich hab was, was ich dir zeigen muss.«
»Was denn?«, fragte Jamie, während er sich seinen Weg durch eine Kette schwitzender Sklaven bahnte, die gerade staubige Blöcke aus getrocknetem Indigo auf ein vor Anker liegendes Frachtschiff verluden. »Und wie bist du daran gekommen, was immer es ist? Du hast doch kein Geld, oder?«
»Nein, ich hab beim Würfeln gewonnen«, kam Ians Stimme angeweht, während sein Körper von einer Wagenladung Mais verdeckt wurde.
»Beim Würfeln! Ian, um Himmels willen, du kannst dich doch nicht auf Glücksspiele einlassen, wenn du keinen Penny besitzt.« Jamie hielt meinen Arm fest und schob sich durch die Menschenmenge, um seinen Neffen einzuholen.
»Das machst du doch auch dauernd, Onkel Jamie«, wandte der Junge ein und blieb stehen, um auf uns zu warten. »Du hast es in jedem Wirtshaus und jedem Gasthof getan, in dem wir Rast gemacht haben.«
»Mein Gott, Ian, ich habe Karten gespielt, nicht Würfel. Und ich weiß, was ich tue.«
»Ich auch«, sagte Ian und setzte eine überlegene Miene auf. »Ich hab gewonnen, oder?«
Jamie verdrehte die Augen und flehte um Geduld.
»Himmel, Ian, bin ich vielleicht froh, dass du heimfährst, bevor dir jemand den Schädel einschlägt. Versprich mir, dass du nicht mit den Matrosen spielst, aye? Auf dem Schiff kannst du ihnen nicht entkommen.«
Ian hörte ihm nicht zu. Er war an einem halb zerfallenen Pfosten angekommen, um den ein fester Strick gebunden war. Er blieb stehen, wandte sich uns zu und deutete auf etwas zu seinen Füßen.
»Na? Es ist ein Hund.«
Ich trat schnell hinter Jamie und griff nach seinem Arm.
»Ian«, sagte ich. »Das ist kein Hund. Es ist ein Wolf. Es ist ein verdammt großer Wolf, und ich finde, du solltest weggehen, bevor er dich in den Hintern beißt.«
Der Wolf stellte nachlässig ein Ohr in meine Richtung auf, befand mich für uninteressant und legte das Ohr wieder an. Vor Hitze hechelnd, saß er da und hielt seine großen, gelben Augen mit einer Intensität auf Ian gerichtet, die jeder, der noch nie einem Wolf begegnet war, für Hingabe gehalten hätte. Ich war schon einmal einem Wolf begegnet.
»Diese Viecher sind gefährlich«, sagte ich. »Sie beißen schneller, als du denkst.«
Jamie ignorierte das und bückte sich, um das Tier in Augenschein zu nehmen.
»Es ist kein richtiger Wolf, oder?« Er klang interessiert und hielt dem sogenannten Hund eine Faust hin, um ihn an seinen Knöcheln schnuppern zu lassen. Ich schloss die Augen und machte mich auf die bevorstehende Amputation seiner Hand gefasst. Da die Schreie ausblieben, öffnete ich sie wieder und sah, dass er auf dem Boden hockte und dem Tier in die Nasenlöcher schaute.