»Ein Pirat«, sagte Kapitän Freeman lakonisch, während er an mir vorbeiging und gerade lange genug stehen blieb, um einen Schuss braunen Tabaksafts ins Wasser zu spucken. »Wenn sie nicht zum Hängen nach Charleston gebracht werden, bindet man sie manchmal bei Ebbe an so einen Pfahl und überlässt sie dem Fluss.«
»Gibt – gibt es hier viele Piraten?« Ian hatte es auch gesehen; er war viel zu alt, um mich noch bei der Hand zu nehmen, stellte sich aber dicht neben mich. Unter der Sonnenbräune war sein Gesicht blass.
»Nicht sehr viele, jetzt nicht mehr. Die Marine hält sie ganz gut unter Kontrolle. Aber noch vor ein paar Jahren konnte man hier oft vier oder fünf Piraten auf einmal sehen. Die Leute haben dafür bezahlt, mit dem Boot herauszufahren und ihnen beim Ertrinken zuzuschauen. Ganz hübsch hier, wenn die Flut bei Sonnenuntergang kommt«, sagte er, und seine Kinnbacken bewegten sich in einem langsamen, nostalgischen Rhythmus. »Dann wird das Wasser ganz rot.«
»Da!« Ian vergaß sich und klammerte sich an meinen Arm. Irgendetwas bewegte sich nah am Ufer, und dann sahen wir, was die Vögel verjagt hatte.
Es glitt ins Wasser, ein langer, schuppiger Körper, vielleicht anderthalb oder zwei Meter lang, der eine tiefe Furche im weichen Uferschlamm hinterließ. Am anderen Ende des Schiffes murmelte der Matrose etwas, ohne jedoch seinen Staken loszulassen.
»Es ist ein Krokodil«, sagte Fergus und machte angewidert das Zeichen gegen das Böse.
»Nein, das glaube ich nicht.« Jamies Stimme erklang hinter mir, und als ich mich umdrehte, sah ich, dass er über das Kabinendach hinweg auf den reglosen Körper im Wasser und die V-förmige Welle blickte, die sich darauf zubewegte. Er hielt ein Buch in der Hand, den Daumen als Lesezeichen zwischen die Seiten gesteckt, und senkte jetzt den Kopf, um den Band zu konsultieren.
»Ich glaube, es ist ein Alligator. Sie ernähren sich von Aas, heißt es hier, und sie fressen kein frisches Fleisch. Wenn sie einen Menschen oder ein Schaf erlegen, ziehen sie das Opfer unter Wasser, um es zu ertränken, schleppen es dann aber in ihre unterirdische Höhle und lassen es dort liegen, bis es so weit verrottet ist, dass es ihnen schmeckt. Natürlich«, fügte er mit einem finsteren Blick zum Ufer hinzu, »haben sie manchmal das Glück, eine fertige Mahlzeit vorzufinden.«
Der Körper am Pfosten schien kurz zu erzittern, als etwas von unten dagegen stieß, und Ian machte hinter mir ein leises Würgegeräusch.
»Wo hast du denn das Buch her?«, fragte ich, ohne dabei den Pfosten aus den Augen zu lassen. Der obere Teil des Holzpflockes vibrierte, als machte sich etwas unter Wasser daran zu schaffen. Dann stand der Pfosten wieder reglos da, und die V-förmige Kielwelle war wieder zu sehen, diesmal in Richtung Ufer. Ich wandte mich ab, bevor es aus dem Wasser kam.
Jamie gab mir das Buch, ohne den Blick von der schwarzen Schlammbank und dem kreischenden Vogelschwarm abzuwenden.
»Der Gouverneur hat es mir gegeben. Er meinte, es könnte auf unserer Reise von Interesse sein.«
Ich blickte auf das Buch herunter. Es war in schlichtes Buckram gebunden, und der Titel war mit Blattgold auf den Rücken geprägt – Naturkunde North Carolinas.
»Uch!«, sagte Ian neben mir. Er beobachtete entsetzt die Szene am Ufer. »Das ist das Schrecklichste, was ich je –«
»Von Interesse«, wiederholte ich, den Blick immer noch fest auf das Buch gerichtet. »Ja, das wird wohl so sein.«
Fergus, dem jede Zimperlichkeit fremd war, beobachtete interessiert, wie der Alligator die Schlammbank emporkroch.
»Ein Alligator, sagt Ihr? Das ist aber doch mehr oder weniger dasselbe wie ein Krokodil, oder nicht?«
»Ja«, sagte ich und erschauderte trotz der Hitze. Ich wandte mich vom Ufer ab. Ich war auf den Westindischen Inseln einem Krokodil aus nächster Nähe begegnet, und ich war nicht erpicht darauf, die Beziehung jetzt mit einem Verwandten zu vertiefen.
Fergus wischte sich den Schweiß von der Oberlippe, und seine dunklen Augen hingen gebannt an der Szene des Grauens.
»Dr. Stern hat Milord und mir einmal von den Reisen eines Franzosen namens Sonnini erzählt, der Ägypten besucht und viel über die Sehenswürdigkeiten geschrieben hat und über die Gebräuche, von denen er hörte. Er sagte, in diesem Land paaren sich die Krokodile an den schlammigen Flussufern. Dabei liegt das Weibchen auf dem Rücken, und es ist in dieser Position nicht in der Lage, sich ohne die Hilfe des Männchens wieder aufzurichten.«
»Oh, aye?« Ian war ganz Ohr.
»Ja, genau. Er sagte, manchmal nutzen die Männer dort, von den Impulsen des Entzugs getrieben, die Zwangslage des Weibchens aus, verjagen das Männchen und nehmen dann selbst seine Stelle ein und genießen die unmenschliche Umarmung des Reptils. Es soll ein machtvolles Zaubermittel sein, wenn man Ansehen und Reichtum erlangen will.«
Ian sackte der Kiefer nach unten.
»Das meinst du doch nicht ernst, Mann?«, wollte er ungläubig von Fergus wissen. Er wandte sich an Jamie. »Onkel Jamie?«
Jamie zuckte belustigt mit den Schultern.
»Ich für meinen Teil würde es vorziehen, arm, aber enthaltsam zu leben.« Er sah mich an und zog eine Augenbraue hoch. »Außerdem glaube ich nicht, dass deine Tante begeistert wäre, wenn ich die Umarmung eines Reptils der ihren vorziehen würde.«
Der Schwarze, der sich das Ganze vom Bug aus angehört hatte, schüttelte den Kopf und sprach, ohne aufzublicken.
»Wer’s mit ’nem Krokodil treibt, um reich zu werden, ist selber schuld, wenn Ihr mich fragt.«
»Da muss ich Euch wirklich recht geben«, sagte ich und sah plötzlich das charmante, zahnreiche Lächeln des Gouverneurs vor meinem inneren Auge. Ich sah Jamie an, doch der hörte nicht mehr zu. Sein Blick war flussaufwärts gerichtet, im Bann der Möglichkeiten, und Buch und Alligator waren vergessen. Immerhin hatte er auch vergessen, seekrank zu werden.
Die Gezeitenströmung erfasste uns eine Meile außerhalb von Wilmington und beschwichtigte Ians Sorgen um unsere Geschwindigkeit. Der Cape Fear war ein Gezeitenwasser, dessen tägliche Flutwelle zwei Drittel seiner Gesamtlänge hinaufreichte, fast bis nach Cross Creek.
Ich spürte, wie der Fluss unter uns lebendig wurde, das Boot einige Zentimeter höherstieg und dann an Geschwindigkeit zunahm, während die steigende Flut sich durch den Hafen wie durch einen Trichter presste und weiter den schmalen Flusslauf hinauf. Der Schwarze seufzte erleichtert und hievte den triefenden Staken aus dem Wasser.
Wir würden ihn nicht mehr brauchen, bis die Flut in fünf oder sechs Stunden zurückging. Dann würden wir entweder für die Nacht vor Anker gehen und auf die nächste Flutwelle warten oder zur Weiterfahrt das Segel benutzen, wenn der Wind es zuließ. Den Staken, so wurde mir mitgeteilt, brauchte man nur in der Nähe einer Sandbank oder im Fall einer Flaute.
Friedliche Schläfrigkeit senkte sich über unser Schiff, Fergus und Ian rollten sich am Bug zum Schlafen zusammen, während Rollo oben auf dem Dach Wache hielt – hechelnd, mit triefender Zunge, die Augen wegen der Sonne halb zugekniffen. Der Kapitän und sein Matrose – der Eutroclus hieß – verschwanden in der winzigen Kabine, von wo das melodische Geräusch ertönte, das beim Einschenken einer Flüssigkeit entsteht.
Jamie befand sich ebenfalls in der Kabine, um irgendetwas aus seiner mysteriösen Kiste zu holen. Ich hoffte, dass es etwas Trinkbares war – obwohl ich nur still auf dem achterlichen Querbalken saß, die Füße im Wasser baumeln ließ und mir den leichten Fahrtwind durch die Nackenhaare blasen ließ, brach mir an sämtlichen Stellen, wo Haut an Haut stieß, der Schweiß aus.
Aus der Kabine erklang undeutliches Murmeln und Gelächter. Jamie kam hervor und wandte sich dem Achterdeck zu. Er wich den Häufchen mit unserer Ausrüstung so vorsichtig aus wie ein Clydesdalehengst den Fröschen auf einer Wiese, und er hielt eine große Holzkiste im Arm.
Diese legte er mir sanft in den Schoß, streifte Schuhe und Strümpfe ab, setzte sich neben mich, ließ die Füße ins Wasser gleiten und seufzte dabei vor Vergnügen über die Kühle.