In meine Lektüre vertieft, hörte ich mit halbem Ohr Ians holprige Version von Plautus’ De Virtute von der anderen Seite der Kabine her. Bei jeder zweiten Zeile unterbrach ihn Jamies tiefere Stimme auffordernd oder verbessernd.
»›Virtus praemium est optimus …‹«
»›Optimum.‹«
»›… est optimum. Virtus omnibus rebus‹ an … äh … an …«
»›Anteit.‹«
»Danke, Onkel Jamie. ›Virtus omnibus rebus anteit … profectus‹?«
»›Profecto.‹«
»Oh, aye, profecto. Hm … ›Virtus‹?«
»Libertas. ›Libertas salus vita res et parentes, patria et prognati …‹ weißt du noch, was vita bedeutet, Ian?«
»Leben«, tönte Ian. Dankbar klammerte er sich an diesen Strohhalm.
»Aye, das ist richtig, aber es ist mehr als Leben. Im Lateinischen bedeutet es nicht nur, am Leben zu sein, sondern es ist die Substanz eines Menschen, sein Kern. Denn es geht weiter mit ›libertas salus vita res et parentes, patria et prognati tutantur, servantur; virtus omnia in sese habet, omnia adsunt bona quem praeest virtus.‹ Also, was meinst du, was das heißt?«
»Äh … Tugend ist eine gute Sache?«, sagte Ian versuchsweise.
Es folgte ein Moment der Stille, in dessen Verlauf ich beinahe hören konnte, wie Jamies Blutdruck stieg. Dann ein langes, zischendes Einatmen, während er sich noch einmal überlegte, was er zu sagen im Begriff war, dann ein leidgeprüftes Ausatmen.
»Mmpf. Schau mal, Ian. ›Tutantur, servantur.‹ Was meint er wohl, wenn er diese beiden Wörter nebeneinanderstellt, anstatt …« Ich wandte mich wieder dem Buch zu, in dem Dr. Rawlings gerade von einem Duell und seinen Folgen berichtete.
15. Mai. Wurde im Morgengrauen aus dem Bett geholt, um nach einem Herrn zu sehen, der im Red Dog Quartier bezogen hatte. Fand ihn in traurigem Zustand vor: eine Handverletzung, verursacht durch die Fehlzündung einer Pistole. Daumen und Zeigefinger waren von der Explosion ganz weggerissen, der Mittelfinger schlimm zugerichtet und zwei Drittel der Hand so zerfetzt, dass man sie kaum noch als menschliches Glied erkennen konnte.
Ich entschied, dass nur sofortige Amputation helfen konnte, ließ den Wirt rufen und erbat einen Becher Brandy, Leinen zum Verbinden und die Hilfe zweier starker Männer. Nachdem dies gebracht und der Patient ausreichend gesichert war, ging ich daran, die Hand – zum Unglück des Patienten war es die rechte – genau über dem Handgelenk abzunehmen. Durchtrennte erfolgreich zwei Arterien, doch die interossea anterior entkam mir und zog sich in den Muskel zurück, nachdem ich die Knochen durchsägt hatte. Musste das Tourniquet lösen, um sie zu finden, daher war der Blutverlust beträchtlich – ein glücklicher Zufall, denn durch den reichlichen Blutfluss verlor der Patient das Bewusstsein, und seiner Agonie war für den Moment ein Ende gesetzt, und auch seinen Bewegungen, die mich sehr bei meiner Arbeit behinderten.
Nach der erfolgreich durchgeführten Amputation wurde der Herr zu Bett gebracht, doch ich blieb in der Nähe für den Fall, dass er jählings wieder zu Bewusstsein käme und mit einer zufälligen Bewegung meine Naht beschädigte.
Diese faszinierende Erzählung wurde durch einen Ausruf Jamies unterbrochen, der offensichtlich am Ende seiner Geduld war.
»Ian, dein Latein ist eine Affenschande! Und was den Rest angeht, so kannst du ja noch nicht einmal genug Griechisch, um Wasser von Wein zu unterscheiden!«
»Wenn man es trinkt, ist es kein Wasser«, murmelte Ian in aufmüpfigem Ton.
Ich klappte das Buch zu und stand hastig auf. Es klang ganz so, als würden hier in Kürze die Dienste eines Schiedsrichters benötigt. Ian gab leise, schottische Unmutsäußerungen von sich, während ich die Kabine umrundete.
»Aye, mpf, aber ich interessiere mich doch gar nicht so –«
»Aye, du interessierst dich nicht dafür! Das ist das Allertraurigste daran, dass du dich für deine Ignoranz nicht einmal schämst.«
Danach kam eine gespannte Pause, die nur durch das leise Plätschern von Eutroclus’ Staken am Bug unterbrochen wurde. Ich blickte um die Ecke und sah Jamie, der seinen zerknirscht wirkenden Neffen wütend anstarrte. Ian warf mir einen Blick zu, hustete und räusperte sich.
»Also, ich sag dir, Onkel Jamie, wenn ich glauben würde, dass es hilft, mich zu schämen, dann hätte ich keine Skrupel, rot zu werden!«
Er setzte eine so überzeugende Armesündermiene auf, dass ich lachen musste. Als Jamie mich hörte, drehte er sich um, und sein finsteres Gesicht hellte sich etwas auf. »Du bist mir aber auch keine große Hilfe, Sassenach«, sagte er. »Du kannst doch Latein, oder? Als Ärztin musst du das doch. Vielleicht sollte ich dir seinen Lateinunterricht überlassen, aye?«
Ich schüttelte den Kopf. Zwar konnte ich Latein – mehr schlecht als recht – lesen, doch ich hatte keine Lust, Ian die Überreste meiner Ausbildung einzutrichtern.
»Alles, was ich noch weiß, ist Arma virumque cano.« Ich sah Ian an und übersetzte grinsend: »Mein Arm wurde von einem Hund gebissen.«
Ian brach in Gekicher aus, und Jamie warf mir einen zutiefst desillusionierten Blick zu.
Er seufzte und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Jamie und Ian hatten körperlich nichts gemeinsam außer ihrer Größe, doch sie hatten beide dichtes Haar und teilten die Angewohnheit, sich mit der Hand hindurchzufahren, wenn sie aufgeregt waren oder nachdachten. Der Unterricht schien anstrengend gewesen zu sein – sie sahen beide so aus, als hätte man sie rückwärts durch eine Hecke geschleift.
Jamie lächelte mich trocken an und wandte sich dann wieder kopfschüttelnd an Ian.
»Nun gut. Ich blaffe dich nicht gern an, Ian, wirklich nicht. Aber du hast doch Verstand, und ich sähe es nicht gern, wenn du den verschwendetest. Himmel, Mann, in deinem Alter war ich in Paris und hatte schon mein Studium an der Université angefangen.«
Ian stand da und sah hinunter in das Wasser, das in glatten, braunen Wellen am Schiffsrumpf entlangwirbelte. Seine Hände lagen auf der Reling; große Hände, breit und sonnengebräunt.
»Aye«, sagte er. »Mein Vater war in meinem Alter auch in Frankreich. Im Krieg.«
Ich war ein wenig erschrocken, das zu hören. Ich hatte gewusst, dass der ältere Ian eine Zeitlang in Frankreich gekämpft hatte, aber nicht, dass er so früh Soldat geworden war – und so lange dort geblieben war. Der junge Ian war gerade fünfzehn. Sein Vater hatte also von diesem Alter an als Söldner gedient, bis er zweiundzwanzig war. Dann hatte ihm eine Kartätsche das Bein so schlimm zerschmettert, dass es dicht unter dem Knie amputiert werden musste – und er war für immer heimgekehrt.
Jamie sah seinen Neffen einen Moment lang mit einem leichten Stirnrunzeln an. Dann stellte er sich neben Ian, lehnte sich nach hinten und hielt sich mit den Händen an der Reling fest.
»Das weiß ich, aye?«, sagte Jamie leise. »Schließlich bin ich ihm gefolgt, als ich geächtet wurde.«
Jetzt blickte Ian verblüfft auf.
»Ihr wart zusammen in Frankreich?«
Die Bewegung des Schiffes verursachte einen leichten Fahrtwind, aber es war immer noch heiß. Vielleicht brachte die Temperatur Jamie zu der Überzeugung, dass es besser war, die hehre Bildung für einen Augenblick zu vergessen, denn er nickte und hob seinen dicken Haarzopf an, um sich den Nacken zu kühlen.
»In Flandern. Über ein Jahr, bis Ian verwundet und nach Hause geschickt wurde. Wir haben damals im schottischen Söldnerregiment gekämpft, um Fergus mac Leodhas.«