Jamie war eilig aufgestanden und blickte in die Abendluft hinaus.
»Ich kann ihn noch nicht sehen«, sagte er. Seine Hand fuhr automatisch an seinen Gürtel, doch natürlich trug er zu seinem Sonntagsstaat keinen Dolch. »Hast du irgendwelche Waffen im Haus, Tante Jocasta?«
Jocasta fiel die Kinnlade herunter.
»Aye«, sagte sie. »Reichlich, aber –«
»Jamie«, sagte ich. »Ein Skunk ist nicht –«
Bevor eine von uns ihren Satz beenden konnte, bewegte sich etwas zwischen den Löwenmäulchen in der Staudenrabatte, so dass die langen Stengel hin- und herschwenkten. Rollo knurrte, und die Nackenhaare standen ihm zu Berge.
»Rollo!« Ian sah sich nach etwas um, das er als Waffe benutzen konnte, schnappte sich das Schüreisen vom Kamin, schwenkte es über dem Kopf und stürzte zur Tür.
»Warte, Ian!« Jamie ergriff den erhobenen Arm seines Neffen. »Sieh mal.« Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, und er zeigte auf die Rabatte. Die Löwenmäulchen teilten sich, und ein schönes, fettes Stinktier marschierte in unser Blickfeld, hübsch schwarzweiß gestreift und offensichtlich der Ansicht, dass in seiner kleinen Welt alles zum Besten stand.
»Das ist ein Skunk?«, fragte Ian ungläubig. »Aber das ist doch nur so ein kleiner Iltisstinker!« Er kräuselte mit ebenso belustigter wie angewiderter Miene die Nase. »Puh! Und ich hab gedacht, es wäre ein gefährliches Riesentier.«
Die zufriedene Unbekümmertheit des Stinktiers war zu viel für Rollo, der mit einem kurzen, scharfen Bellen vorwärtsschoss. Er täuschte auf der Terrasse einen Angriff nach dem anderen vor, knurrte und machte kurze Sätze auf das Stinktier zu, das angesichts des Aufruhrs eine verärgerte Miene machte.
»Ian«, sagte ich und zog mich hinter Jamies Rücken zurück. »Ruf deinen Hund zurück. Skunks sind gefährlich.«
»Wirklich?« Jamie drehte sich mit verwirrtem Gesicht zu mir um. »Aber was –«
»Iltisse stinken nur«, erklärte ich. »Stinktiere – Ian, nicht! Lass es in Ruhe und komm rein!« Neugierig hatte Ian das Stinktier mit dem Schüreisen angestupst. Erbost über diese ungebetenen Annäherungsversuche, stampfte das Stinktier mit den Füßen und hob seinen Schwanz.
Ich hörte, wie ein Stuhl über den Boden kratzte, und sah mich um. Jocasta war aufgestanden, und ihr Gesichtsausdruck war besorgt, doch sie machte keine Anstalten, zur Tür zu gehen.
»Was ist los?«, sagte sie. »Was geht hier vor?«
Zu meiner Überraschung starrte sie in das Zimmer und drehte den Kopf hin und her, als versuchte sie, jemanden im Dunkeln zu erkennen.
Plötzlich dämmerte mir die Wahrheit: Ihre Hand auf dem Arm des Butlers, die Art, wie sie Jamies Gesicht zur Begrüßung berührt hatte, das Glas, das in ihre Reichweite gestellt wurde, und der Schatten auf ihrem Gesicht, als Ian das Gemälde erwähnte. Jocasta Cameron war blind.
Ein erstickter Schrei und ein durchdringendes Jaulen brachten mich schlagartig zu den dringenderen Ereignissen auf der Terrasse zurück. Eine Flutwelle von beißendem Gestank ergoss sich ins Zimmer.
Würgend und japsend, die Augen voller Tränen von dem Gestank, tastete ich nach Jamie, der atemlos Bemerkungen auf Gälisch hervorstieß. Inmitten all des Gestöhns und des mitleiderregendem Geheuls aus dem Garten hörte ich hinter mir kaum das leise Ting! von Jocastas Glocke.
»Ulysses?«, sagte sie und klang resigniert. »Sag am besten dem Koch Bescheid, dass wir später essen.«
»Was für ein Glück, dass wenigstens Sommer ist«, sagte Jocasta am nächsten Tag beim Frühstück. »Stellt euch vor, es wäre Winter, und wir müssten die Türen geschlossen halten!« Sie lachte und entblößte dabei ihre Zähne, die für ihr Alter in überraschend gutem Zustand waren.
»Oh, aye«, murmelte Ian. »Kann ich bitte noch etwas Toast haben, Ma’am?«
Er und Rollo waren zuerst im Fluss abgespült und dann mit Tomaten abgerieben worden, die am Toilettenhäuschen an der Rückseite des Hauses rankten. Die geruchsmindernden Eigenschaften dieser Früchte waren gegen Skunköl genauso wirksam wie gegen die weniger schlimmen Gerüche menschlicher Exkremente, doch in keinem der Fälle war der neutralisierende Effekt hundertprozentig. Ian saß allein am anderen Ende der langen Tafel neben einer geöffneten Fenstertür, doch ich sah, wie das Dienstmädchen, das ihm den Toast brachte, unauffällig die Nase rümpfte.
Vielleicht waren es Ians Nähe und ein Bedürfnis nach frischer Luft, was Jocasta auf den Gedanken brachte, einen Ausritt zu den Terpentinanlagen in den Wäldern oberhalb von River Run vorzuschlagen.
»Hin und zurück dauert es einen Tag, aber ich glaube, das Wetter bleibt schön.« Sie wandte sich der offenen Fenstertür zu, wo Bienen über einer Rabatte mit Goldrute und Phlox summten. »Hört ihr sie?«, sagte sie und lächelte knapp an Jamie vorbei. »Die Bienen sagen, es wird heiß und sonnig.«
»Ihr habt gute Ohren, Madame Cameron«, sagte Fergus höflich. »Wenn ich jedoch vielleicht ein Pferd aus Eurem Stall borgen dürfte, würde ich mich lieber in die Stadt begeben.« Ich wusste, dass er es nicht erwarten konnte, Marsali eine Nachricht nach Jamaika zu schicken; ich hatte ihm in der Nacht zuvor geholfen, einen langen Brief zu schreiben, in dem er unsere Abenteuer und unsere glückliche Ankunft beschrieb. Anstatt abzuwarten, bis ein Sklave ihn mit der wöchentlichen Post mitnahm, wollte er ihn lieber eigenhändig abschicken.
»Das dürft Ihr in der Tat, Mr. Fergus«, sagte Jocasta großzügig. Sie blickte lächelnd über den ganzen Tisch. »Wie gesagt, ich möchte, dass ihr alle River Run betrachtet, als wäre es euer Zuhause.«
Jocasta hatte offensichtlich vor, uns auf dem Ausritt zu begleiten; sie kam in einem Reitkleid aus dunkelgrünem Musselin die Treppe herunter, und das Dienstmädchen Phaedre trug ihr einen Hut hinterher, der mit passenden Samtbändern verziert war. Sie hielt in der Eingangshalle inne, doch anstatt gleich den Hut aufzusetzen, ließ sie sich von Phaedre die Augen mit einem weißen Leinenstreifen verbinden.
»Ich kann nur Licht sehen«, sagte sie. »Ich kann überhaupt keine Gegenstände erkennen. Aber das Sonnenlicht tut mir weh, so dass ich meine Augen schützen muss, wenn ich mich ins Freie begebe. Seid ihr fertig, meine Lieben?«
Damit waren einige meiner Spekulationen über ihre Blindheit beantwortet, wenn auch nicht alle. Retinitis pigmentosa?, fragte ich mich mit Interesse, als ich ihr durch die großzügige Eingangshalle folgte. Oder vielleicht Netzhautdegeneration, obwohl ein Glaukom wohl am wahrscheinlichsten war. Nicht zum ersten Mal – und auch nicht zum letzten, da war ich mir sicher – umschlossen meine Finger den Griff eines imaginären Ophtalmoskops, begierig zu sehen, was für die Augen allein nicht zu sehen war.
Als wir zu den Ställen hinübergingen, stand zu meiner Überraschung eine Stute gesattelt für Jocasta bereit anstelle der Kutsche, die ich erwartet hatte. Das Talent zur Pferdebeschwörung zog sich dominant durch die Linie der MacKenzies; beim Anblick ihrer Herrin hob die Stute den Kopf und wieherte, und Jocasta, deren Gesicht vor Freude aufleuchtete, ging unverzüglich zu ihrem Pferd.
»Ciamar a tha thu?«, sagte sie und strich über die weiche, römische Nase. »Da ist ja meine Corinna. Ist sie nicht ein braves Mädchen?« Sie griff in ihre Tasche und zog einen kleinen, grünen Apfel hervor, den ihr das Pferd vorsichtig abnahm.
»Und haben sie sich um dein Knie gekümmert, mo chridhe?« Jocasta bückte sich und fuhr am Bein des Pferdes entlang bis zur Innenseite des Knies, wo sie mit sicherer Hand eine verheilende Narbe suchte und fand. »Was sagst du, Neffe? Ist sie gesund? Kann ich ihr einen Tagesritt zumuten?«
Jamie schnalzte mit der Zunge, und Corinna, die ihn unmissverständlich als jemanden erkannte, der ihre Sprache sprach, trat gehorsam einen Schritt auf ihn zu. Er warf einen Blick auf ihr Bein, nahm sie am Zügel und drängte sie mit ein paar leisen Worten auf Gälisch zum Gehen. Dann brachte er sie zum Stehen, schwang sich in den Sattel, trabte zweimal langsam um den Hof und blieb vor der wartenden Jocasta stehen.