«Tut mir leid, Monsieur le Commissaire«, erklärte der Besitzer dem übernächtigt aussehenden Detektiv, der die Razzia leitete.»Pastor Jensen ist vor einer Stunde abgereist.«
Der Schakal hatte ein Taxi angehalten und sich zur Gare d'Austerlitz, an der er gestern angekommen war, zurückfahren lassen, weil sich die Suche nach ihm inzwischen auf einen anderen Stadtteil konzentriert haben würde. Er gab den Koffer, in dem sich das Gewehr, der Militärmantel und die anderen Bekleidungsstücke des fiktiven Franzosen Andre Martin befanden, in der Gepäckaufbewahrung ab und behielt lediglich den Koffer mit der Kleidung und den Papieren des amerikanischen Studenten Marty Schulberg sowie die Reisetasche, in die er die zum Make-up benötigten Artikel gesteckt hatte, bei sich.
Mit diesen beiden Gepäckstücken und noch immer im schwarzen Anzug — unter dem er jedoch einen Rollkragenpullover trug, der den steifen weißen Kragen und das schwarze Plastron verdeckte —, betrat er ein schäbiges kleines Hotel gleich um die Ecke vom Bahnhof. Der Portier ließ ihn das Meldeformular selbst ausfüllen und war zu träge, die Eintragungen, wie es die Vorschrift bestimmte, mit den Angaben im Paß zu vergleichen.
Oben in seinem Zimmer begann der Schakal sofort, sich Gesicht und Haar herzurichten. Der graue Farbton wurde mit Hilfe eines Lösemittels herausgewaschen und das jetzt wieder blonde Haar kastanienbraun gefärbt. Die blauen Kontaktlinsen brauchten nicht entfernt zu werden, aber die goldgeränderte Brille wurde durch eine schwere Hornbrille ersetzt. Die schwarzen Schuhe, die Socken, das Hemd, das Plastron und der Anzug des Geistlichen wanderten zusammen mit dem Paß von Pastor Jensen aus Kopenhagen in den Koffer. Statt dessen zog er die Socken, die Jeans, das T-Shirt, die Sneakers und die Windjacke des amerikanischen College-Boys aus Syracuse im Staat New York an.
Gegen 11 Uhr war er zum Aufbruch bereit. In der linken Brusttasche seiner Windjacke steckte der Paß des Amerikaners, in der rechten ein Packen französischer Banknoten. Den Koffer mit den Sachen Pastor Jensens stellte er in den Garderobenschrank, den Schrankschlüssel warf er in den Abfluß des Bidets. Er verließ das Hotel über die Feuerleiter und gab die Reisetasche wenige Minuten später in der Gepäckaufbewahrung der Gare d'Austerlitz ab. Den Gepäckschein steckte er zu dem des Koffers in seine Gesäßtasche und machte sich auf den Weg. Er nahm ein Taxi, ließ sich zur Ecke des Boulevard Saint-Michel und der rue de la Huchette fahren und tauchte in den engen Gassen des vorwiegend von Studenten und anderen jungen Leuten bewohnten Quartier Latin unter.
Als er in einer verrauchten Gastwirtschaft an einem der hinteren Tische Platz gefunden hatte, um ein billiges Mittagessen einzunehmen, begann er sich zu fragen, wo er die Nacht verbringen würde. Er bezweifelte nicht, daß seine Rolle als Pastor Jensen von Lebel inzwischen aufgedeckt worden war, und gab Marty Schulberg nicht mehr als vierundzwanzig Stunden.
Verfluchter Hund, dieser Lebel, dachte er wütend, lächelte jedoch sofort, als die Kellnerin ihm strahlend die Karte reichte.
«Danke, Honey.«
Um 10 Uhr setzte sich Lebel nochmals mit Thomas in Verbindung. Seine Bitte entlockte diesem ein leises Stöhnen, aber er gab die Zusage, daß er alles tun würde, was in seiner Macht stünde.
Als das Gespräch beendet war, bestellte Thomas den dienstältesten Inspektor, der in der vergangenen Woche in die Fahndung eingeschaltet gewesen war, zu sich.
«Setzen Sie sich«, sagte er.»Die Franzmänner haben sich nochmals gemeldet. Er scheint ihnen wiederum entwischt zu sein. Jetzt ist er irgendwo in Paris, und sie befürchten, daß er eine weitere falsche Identität parat hat. Wir beide werden der Reihe nach alle hiesigen Konsulate anrufen und um eine Liste sämtlicher Pässe bitten, die seit dem 1.Juli von Ausländern als verloren oder gestohlen gemeldet wurden. Die Konsulate afrikanischer und asiatischer Staaten können Sie auslassen. Beschränken Sie sich auf die europäischen und amerikanischen Länder und nehmen Sie noch Australien und Südafrika hinzu. In jedem einzelnen Fall muß die Körpergröße des Paßinhabers aufgenommen werden. Alle Männer über einssiebzig sind verdächtig. Los geht's!«Die tägliche Besprechung im Ministerium war auf 14 Uhr vorverlegt worden.
Lebel erstattete wie immer in seiner nüchtern-monotonen Weise Bericht. Die Reaktion der Konferenzteilnehmer war alles andere als freundlich.
«Verflucht!«rief der Minister mitten im Vortrag aus.»Der Hund hat aber auch wirklich teuflisches Glück!«
«Nein, Monsieur le Ministre, das hat nichts mit Glück zu tun. Oder doch nur sehr wenig. Er ist laufend über unsere Maßnahmen informiert worden — in jeder Phase. Das ist auch der Grund, weshalb er Gap in solcher Eile verlassen hat und sich nach dem Mord an der Frau in La Haute Chalonniere gerade noch rechtzeitig, bevor das Netz sich um ihn zusammenzog, aus dem Staub machen konnte.Abend für Abend habe ich in diesem Kreis über den jeweiligen Stand der Ermittlungen referiert. Dreimal standen wir kurz davor, ihn zu fassen. Heute morgen war es die Verhaftung Valmys und meine Unfähigkeit, Valmys Stimme am Telephon zu imitieren, die ihn veranlaß te, das Hotel überstürzt zu verlassen und eine andere Identität anzunehmen. Aber in den beiden anderen Fällen ist er am frühen Morgen, nachdem ich dieser Versammlung Bericht erstattet hatte, gewarnt worden.«
Eisiges Schweigen herrschte in dem Konferenzzimmer.
«Ich glaube mich zu erinnern«, bemerkte der Minister schließlich in spürbar befremdeten Tonfall,»daß Sie schon einmal etwas Derartiges erwähnten. Ich hoffe, Sie können das begründen, Kommissar.«
Statt zu antworten, stellte Lebel ein batteriebetriebenes Tonbandgerät auf den Tisch und betätigte den Startknopf. In dem Schweigen, das im Konferenzraum herrschte, klangen die Stimmen der mitgeschnittenen telephonischen Unterhaltung metallisch und harsch. Als das Gespräch beendet war, starrten alle Konferenzteilnehmer das auf dem Tisch stehende Gerät an. Oberst Saint Clair war aschgrau geworden, und seine Hände zitterten leicht, als er seine Papiere zusammenraffte.
«Wessen Stimme war das?«fragte der Minister schließlich.
Lebel schwieg. Saint Clair erhob sich zögernd, und aller Blicke richteten sich auf ihn.
«Ich bedaure, Ihnen sagen zu müssen, Monsieur le Ministre, daß es die Stimme einer — einer Freundin von mir war. Sie wohnt gegenwärtig bei mir… Verzeihen Sie.«
Er verließ das Konferenzzimmer, um in den Elysee-Palast zurückzukehren und seinen Abschied einzureichen. Rings um den Tisch starrten die Zurückgebliebenen auf ihre Hände.»Alsdann, Kommissar«, ließ sich die jetzt wieder ganz ruhige Stimme des Ministers vernehmen,»fahren Sie bitte fort.«
Lebel berichtete weiter und erwähnte seine an Superintendent Thomas in London gerichtete Bitte, jeden dort in den letzten fünfzig Tagen gemeldeten Paßdiebstahl oder — verlust zu überprüfen.
«Ich hoffe«, schloß er,»noch heute abend eine kurze Liste mit vermutlich nicht mehr als zwei, drei Fällen zu erhalten, die auf die Beschreibung passen, welche wir vom Schakal haben. Sobald ich sie in Händen halte, werde ich die Behörden der Heimatländer dieser Touristen, denen in London der Paß abhanden gekommen ist, um Photos der Betreffenden bitten. Denn wir können sicher sein, daß der Schakal inzwischen nicht mehr wie Calthrop oder Duggan oder Jensen aussieht, sondern so, wie es seine neue Identität erfordert. Wenn alles klappt, habe ich morgen mittag die Photos.«
«Ich meinerseits«, sagte der Minister,»kann Ihnen von der Unterredung berichten, die ich mit Präsident de Gaulle hatte. Er hat sich rundheraus geweigert, von seinem Programm für die nächsten Tage auch nur im geringsten abzugehen und sich auf diese Weise der Gefahr, die ihm droht, zu entziehen. Das war, ehrlich gesagt, kaum anders zu erwarten. In einem Punkt habe ich den Staatspräsidenten jedoch zu einer Konzession bewegen können. Das strikte Gebot der Geheimhaltung wurde, zumindest in dieser Hinsicht, aufgehoben.