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Erwartete geduldig. Lebel blinzelte rasch ein paarmal und stand auf. Er nickte der Versammlung mächtiger Männer, die über Tausende von Untergebenen und Millionen Francs zu bestimmen hatten, kurz zu. Sie erwiderten seinen Gruß mit einem freundlichen Lächeln. Er wandte sich um und verließ den Raum.

Zum erstenmal seit zehn Tagen ging Kommissar Lebel zum Schlafen nach Hause. Als er den Schlüssel ins Schloß steckte und von seiner Frau die ersten Vorwürfe zu hören bekam, schlug es Mitternacht, und der 23. August war gekommen.

ZWANZIGSTES KAPITEL

Eine Stunde vor Mitternacht betrat der Schakal die Bar. Sie war so dunkel, daß er ein paar Sekunden lang weder die Ausmaße noch die Form des Raums abzuschätzen vermochte. Linkerhand erstreckte sich die Theke vor einer erleuchteten Reihe von Spiegeln und Flaschen. Als die Tür sich hinter ihm schloß, starrte ihn der Barmixer mit unverhohlener Neugier an. Der Raum war schlauchartig eng und entlang der rechten Wand mit kleinen Tischen ausgestattet. Jenseits der Bar erweiterte er sich zu einem Salon, und dort gab es größere Tische, an denen vier oder sechs Personen Platz finden konnten. Längs der Theke stand eine Anzahl Barhocker. Die meisten Stühle und Barhocker waren von der Stammkundschaft besetzt.

Die Unterhaltung an den Tischen nahe der Tür war verstummt, während die Gäste den Schakal musterten, und die plötzliche Stille dehnte sich rasch bis in die Tiefe des Raums aus, als den etwas weiter entfernt sitzenden Kunden die Blicke ihrer Begleiter auffielen und sie sich ihrerseits umdrehten, um die athletische Gestalt an der Tür in Augenschein zu nehmen. Ein paar geflüsterte Bemerkungen wurden ausgetauscht, hier und dort war kokettes Kichern und leises Lachen vernehmbar. Der Schakal erspähte einen freien Barhocker und drängte sich zwischen der Theke zur Linken und der Reihe kleiner Tische zur Rechten hindurch, um darauf Platz zu nehmen. Das erregte Getuschel in seinem Rücken entging ihm nicht.

«Oh, regarde-moi gal Diese Muskeln! Darüber könnte ich glatt den Verstand verlieren.«

Der Barmixer eilte vom anderen Ende der Theke herbei, um seine Order entgegenzunehmen und ihn näher betrachten zu können. Seine karminroten Lippen verzogen sich zu einem koketten Lächeln. »Bon soir- monsieur.«

Hinter dem Schakal wurde mehrstimmiges Prusten und Kichern laut.

«Donnez-moi un Scotch.«

Der Barmixer tänzelte entzückt davon. Ein Mann, ein Mann, ein echter Mann! Oh, was für ein tolles Gerangel das heute abend noch geben würde! Er konnte die petitesfolles im hinteren Raum der Bar bereits ihre Krallen schärfen sehen. Die meisten warteten auf ihre» festen «Freier, aber einige waren nicht verabredet und daher» noch zu haben«. Dieser neue Junge würde gewiß Furore machen, dachte der Barmixer.

Der Gast, der unmittelbar neben dem Schakal an der Bar saß, wandte sich ihm zu und betrachtete ihn mit offenkundiger Neugierde. Sein Haar war metallischgolden getönt und wie bei jungen griechischen Göttern auf einem antiken Fries in sorgfältig gedrehten Löckchen in die Stirn gekämmt. Damit jedoch endete die Ähnlichkeit auch schon. Die Augen waren blau untermalt, die Lippen korallenfarben und die Wangen gepudert. Aber das Make-up konnte die scharfen Gesichtsfalten des alternden Lüstlings nicht überdecken, und den Ausdruck nackter Gier in seinen Augen milderte auch die Wimperntusche nicht.

«Tu m'invites?« fragte er kokett lispelnd.

Der Schakal schüttelte den Kopf. Achselzuckend wandte sich der Transvestit wieder seinem Gefährten zu. Unter Piepslauten vorgetäuschten Erschreckens setzten sie mit vielem Getuschel ihre Unterhaltung fort. Der Schakal hatte seine Windjacke ausgezogen, und als er jetzt nach dem Drink griff, den ihm der Barmixer servierte, spielte seine Schulter- und Rückenmuskulatur unter dem engen T-Shirt.

Kurz vor Mitternacht begannen die Freier aufzukreuzen. Sie nahmen an den hinteren Tischen Platz, musterten die Umsitzenden und winkten wiederholt den Barmixer zu sich heran, um sich flüsternd mit ihm zu beraten. Dann kehrte er hinter die Theke zurück und gab einer der» Damen «einen Wink.

«Monsieur Pierre möchte sich mit dir unterhalten, Liebste. Sei ein bißchen nett zu ihm und heule, um Gottes willen, nicht gleich los wie das letztemal.«

Der Schakal traf seine Wahl kurz nach Mitternacht. Zwei der Männer im hinteren Teil der Bar schauten seit einiger Zeit zu ihm herüber. Sie saßen an verschiedenen Tischen und warfen einander zwischendurch giftige Blicke zu. Beide waren sie mittleren Alters; der eine war feist und hatte winzig kleine, in konzentrische Fettpolster gebettete Augen und Speckfalten im Nacken, die ihm über den Kragen quollen. Der andere war dürr, wirkte elegant, hatte den Hals eines Geiers und eine ausgedehnte Glatze unter den quer über den Schädel geklebten spärlichen Haarsträhnen. Er trug einen vorzüglich geschneiderten Anzug mit engen Hosenbeinen und einer Jacke, aus deren Ärmel spitzenbesetzte Manschetten hervorschauten. Um den Geierhals hatte er ein locker geknotetes Foulardtuch geschlungen. Wird sicher was mit Kunst, mit Mode oder Haarmode zu tun haben, schätzte der Schakal.

Der Feiste gab dem Barmixer einen Wink und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Barmixer ließ den ihm zugesteckten Geldschein in der Gesäßtasche seiner engsitzenden Hose verschwinden und kehrte zur Theke zurück.

«Der Monsieur möchte fragen, ob du ein Glas Champagner mit ihm trinken würdest«, flüsterte er dem Schakal schelmisch lächelnd zu.

Der Schakal setzte sein Whiskyglas ab.

«Bestellen Sie dem Monsieur«, sagte er laut genug, um es alle Umsitzenden hören zu lassen,»daß ich ihn abstoßend finde.«

Entsetzt schnappten die in der Nähe befindlichen» Damen «nach Luft, und einige der zierlichen jungen Männer stiegen von ihren Barhockern und traten näher herzu, um sich nur ja kein Wort entgehen zu lassen. Der Barmixer riß erschrocken die Augen auf.»Er lädt dich zum Champagner ein, Süßer. Wir kennen ihn, er ist steinreich. Du hast einen Haupttreffer erzielt. «Statt zu antworten, nahm der Schakal sein Glas, verließ seinen Platz an der Bar und schlenderte zu dem alten Beau hinüber.

«Erlauben Sie, daß ich mich zu Ihnen setze?«fragte er.»Man belästigt mich.«

Der kunstvoll Hergerichtete fühlte sich so geschmeichelt, daß ihm fast die Sinne zu schwinden drohten. Ein paar Minuten später brach der Feiste auf und verließ beleidigt das Lokal, während sein Rivale, die magere alte Hand lässig auf die des jungen Amerikaners an seinem Tisch gelegt, seinem neuen Freund bestätigte, wie unmöglich die Manieren gewisser Leute seien.

Der Schakal und sein Begleiter verließen die Bar nach l Uhr. Ein paar Minuten zuvor hatte der besorgte väterliche Freund, dessen Name Jules Bernard war, seinen Schützling gefragt, wo er wohne, und dieser ihm verschämt gestanden, daß er keine Unterkunft habe und überdies völlig pleite sei. Was Bernard betraf, so wagte er seinem Glück kaum zu trauen. Das träfe sich gut, erklärte er seinem jungen Freund. Er nämlich besäße eine schöne Wohnung, hübsch eingerichtet und wundervoll ruhig gelegen. Er lebe allein, niemand störe seinen Frieden, und mit den Nachbarn im Haus vermeide er jeden Kontakt, denn er habe in dieser Beziehung schlechte Erfahrungen gemacht. Er wäre entzückt, wenn Jung Martin für die Dauer seines Pariser Aufenthaltes bei ihm wohnen würde. Unter eindringlichen Beteuerungen überschwenglicher Dankbarkeit hatte der Schakal die Einladung angenommen. Unmittelbar bevor sie aufbrachen, war er rasch auf die Toilette (es gab nur eine) gegangen und wenige Minuten später mit dick untermalten Augen, gepuderten Wangen und karminrotgefärbten Lippen zurückgekehrt. Bernard hatte ganz entsetzt dreingeblickt, aber nichts gesagt, solange sie sich in der Bar befanden.

«In dieser Aufmachung solltest du nicht herumlaufen«, protestierte er, als sie auf die Straße hinaustraten.»Du siehst damit aus wie all die anderen gräßlichen Puppen da drinnen. Du bist ein sehr gut aussehender Junge und hast es nicht nötig, dir das Zeug ins Gesicht zu schmieren.«