«Tut mir leid, Jules. Ich dachte, du fändest mich hübscher so. Wenn wir nach Hause kommen, wische ich es mir gleich ab.«
Wieder versöhnt, führte Bernard den Schakal zu seinem Wagen. Er erklärte sich bereit, seinen neuen Freund zunächst zur Gare d'Austerlitz zu fahren, damit er sein Gepäck abholte, bevor sie in Bernards Wohnung gingen. An der ersten Kreuzung wurden sie von einem Polizisten gestoppt. Als der Beamte sich zum linken Vorderfenster hinunterbeugte, knipste der Schakal die Innenbeleuchtung an. Der Polizist starrte sechzig Sekunden lang entgeistert in den Wagen und zog dann angewidert den Kopf zurück.
«Allez«, befahl er, ohne die Insassen eines weiteren Blicks zu würdigen, und murmelte:
«Salespedes«, als der Wagen anfuhr. Kurz vor dem Bahnhof wurden sie nochmals angehalten und zum Vorweisen ihrer Papiere aufgefordert. Der Schakal kicherte verführerisch.
«Ist das alles, was ihr wollt?«fragte er schelmisch.
«Macht, daß ihr weiterkommt«, sagte der Polizist und trat zur Seite.
«Provoziere sie doch nicht so«, warnte ihn Bernard sotto voce.»Du bringst uns noch ins Gefängnis.«
Der Schakal löste seinen Koffer und die Reisetasche am Gepäckschalter aus, ohne dabei Schlimmerem als dem verächtlichen Blick des diensttuenden Beamten zu begegnen, und verstaute beide Gepäckstücke im Kofferraum des Wagens.
Auf der Fahrt zu Bernards Wohnung wurden sie wiederum angehalten. Diesmal waren es zwei CRS-Männer, ein Sergeant und ein Gemeiner, die wenige hundert Meter vor dem Haus, in dem Bernard wohnte, auf einer Straßenkreuzung standen und die Ausweise aller Fahrzeuginhaber kontrollierten. Der Gemeine trat an das rechte Fenster, blickte dem Schakal ins Gesicht und zuckte zurück.
«Oh, mein Gott. Wohin wollt denn ihr zwei beiden?«
«Na, was glaubst du wohl, Süßer?«
Der CRS-Mann verzog angewidert das Gesicht.
«Schiebt ab, ihr geilen Puppen! Los, weiterfahren.«
«Sie hätten sie nach ihren Ausweispapieren fragen sollen«, hielt ihm der Sergeant vor, als der Wagen sich entfernte.
«Aber Sergeant«, winkte der Gemeine ab,»wir suchen nach einem Burschen, der eine Baronin erst um und dumm gevögelt und dann totgeschlagen hat — und nicht nach zwei schwulen Tunten. «Um 2 Uhr morgens betraten Bernard und der Schakal die Wohnung. Der Schakal bestand darauf, im Wohnzimmer auf der Couch zu schlafen, und Bernard erhob keine Einwände, wenngleich er es nicht lassen konnte, durch die Schlafzimmertür zu spähen, als der junge Amerikaner sich auszog. Es würde offenkundig einer geduldigen, aber konsequenten Taktik bedürfen, um den durchtrainierten Studenten aus dem Staat New York zu verführen. In der Nacht sah sich der Schakal in der mit weibischbetulichem Geschmack dekorierten, im übrigen aber hochmodern eingerichteten Küche um und inspizierte die Lebensmittelvorräte im Kühlschrank. Er kam zu dem Schluß, daß sich eine Person mit den vorhandenen Lebensmitteln drei Tage lang ernähren konnte; für zwei reichten sie jedoch nicht. Am Morgen wollte Bernard frische Milch holen, aber der Schakal beharrte darauf, daß er es vorziehe, seinen Kaffee mit Dosenmilch zu trinken. So verbrachten sie den Vormittag in der Wohnung. Der Schakal schaltete den Fernseher ein, um die Mittagssendung des Nachrichtendienstes zu sehen.
Die erste Meldung betraf die Jagd nach dem Mörder der Baronin de la Chalonniere, deren Leiche vor achtundvierzig Stunden aufgefunden worden war. Jules Bernard schrie entsetzt auf.»Uuuh, Brutalität kann ich nicht ertragen«, erklärte er. Im nächsten Augenblick erschien in Großaufnahme ein Gesicht auf dem Bildschirm: ein gutgeschnittenes junges Gesicht mit kastanienbraunem Haar und Hornbrille. Wie der Nachrichtensprecher sagte, handelte es sich um das des Mörders, eines amerikanischen Studenten namens Marty Schulberg. Hatte irgend jemand diesen Mann gesehen oder Kenntnis von seinem gegenwärtigen Aufenthaltsort erlangt? Sachdienliche Hinweise nahm jedes Polizeikommissariat entgegen…
Bernard, der auf dem Sofa saß, drehte sich um und blickte auf. Sein letzter Gedanke war, daß der Sprecher sich geirrt haben mußte, denn er hatte gesagt, Schulbergs Augen seien blau.
Aber die auf ihn hinunterstarrenden Augen über den stählernen Fingern, die ihm die Kehle zudrückten, waren grau…
Wenige Minuten später schloß der Schakal den eingebauten Garderobenschrank in der Diele, hinter dessen Tür Jules Bernard mit gebrochenen Augen, verzerrten Gesichtszügen und heraushängender Zunge ins Dunkel starrte. Der Schakal richtete sich aufeine zweitägige Wartezeit ein, nahm ein Magazin aus dem Zeitschriftenständer im Wohnzimmer und machte es sich bequem.
In diesen zwei Tagen wurde ganz Paris gründlicher durchkämmt als je zuvor in seiner Geschichte. Jedes Hotel, vom elegantesten und teuersten bis hinunter zur schäbigsten
Absteige, wurde von Polizeibeamten aufgesucht; jede Gästeliste wurde überprüft; jede Pension, jedes Boardinghouse, jede Herberge Zimmer für Zimmer durchsucht. Bars, Restaurants, Nachtklubs, Kabaretts und Cafes wurden von Razzien heimgesucht, bei denen Detektive Kellnern, Barmixern und Rausschmeißern das Photo des Gesuchten vorhielten. Die Häuser und Wohnungen aller polizeinotorischen OAS-Sympathisanten wurden durchsucht. Man sistierte mehr als siebzig junge Männer, die unleugbar eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Mörder aufwiesen, um sie nach langwierigen Verhören mit den in solchen Fällen üblichen Entschuldigungen wieder freizulassen — und das auch nur, weil sie allesamt Ausländer waren und Ausländer höflicher behandelt werden mußten als Einheimische. Auf den Straßen, in Taxis und Bussen wurden Hunderttausende zum Vorweisen ihrer Papiere aufgefordert, auf allen Ausfallstraßen Sperren errichtet und Nachtvögel alle fünfhundert Meter angehalten und nach dem Ausweis befragt.
In der Unterwelt waren die Korsen auf ihre Weise tätig. Sie tauchten in den Schlupfwinkeln der Zuhälter, Prostituierten, Taschendiebe, Strolche, Schwindler und Hehler auf und ließen keinen Zweifel daran, daß jeder, der Informationen verschwieg, mit unnachsichtigen Strafmaßnahmen von Seiten der Union zu rechnen hatte.
Vom ranghöchsten Kriminaldirektor über den altgedienten Landgendarmen bis zum einfachsten Soldaten hatte der Staat insgesamt hunderttausend Mann aufgeboten. Die auf fünfzigtausend Mitglieder geschätzte Unterwelt behielt alle in ihren Gefilden auftauchenden neuen Gesichter im Auge. Wer nächtens oder bei Tag in der Fremdenverkehrsindustrie tätig war, wurde zur Wachsamkeit angehalten. Jugendlich aussehende Detektive unterwanderten Debattierklubs, studentische Vereinigungen und Gruppen aller Schattierungen. Agenturen, die Adressen für Austauschstudenten vermittelten, wurden aufgesucht und zur Mitarbeit vergattert.
Am 24. August bekam Claude Lebel, der in seiner alten Strickjacke und geflickten Hosen in seinem Garten gewerkelt hatte, spätnachmittags einen Anruf aus dem Innenministerium. Der Minister bestellte ihn zu einer Unterredung in sein privates Arbeitszimmer. Um 18 Uhr holte ihn ein Wagen ab.
Lebel bekam einen Schreck, als er den Minister sah. Der dynamische Chef des gesamten französischen Sicherheitsapparats wirkte müde und abgespannt. Er schien innerhalb der letzten achtundvierzig Stunden merklich gealtert zu sein, und um die Augen hatte der Mangel an Schlaf viele feine Linien eingezeichnet. Er forderte Lebel auf, in dem Sessel vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, und setzte sich seinerseits auf den Drehstuhl, von dem er sonst gern mit einer halben Wendung nach links auf die Place Beauvau hinausblickte. Heute freilich schaute er kein einziges Mal aus dem Fenster.
«Wir können ihn nicht finden«, sagte er unvermittelt.»Er ist verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Wir sind überzeugt, daß die OAS-Leute ebensowenig wie wir wissen, wo er ist. In der Unterwelt hat man ihn auch nicht gesichtet. Die Union Corse hält es für ausgeschlossen, daß er noch in der Stadt ist.«