Er schwieg, seufzte und richtete den Blick auf den ihm gegenübersitzenden kleinen Detektiv, der mehrmals blinzelte, aber nichts sagte.
«Ich glaube, wir haben uns nie richtig klargemacht, was für ein Mann das ist, den Sie da die letzten beiden Wochen hindurch verfolgt haben. Was meinen Sie?«
«Er ist hier, irgendwo«, sagte Lebel.»Was ist für morgen vorgesehen?«
Der Minister sah aus, als leide er körperliche Schmerzen.»Der Präsident weigert sich, das vorgesehene Programm für die nächsten Tage auch nur im geringsten abzuändern. Ich habe heute morgen mit ihm gesprochen. Er war höchst ungehalten. Also bleibt es morgen bei dem bereits veröffentlichten Veranstaltungsprogramm. Um 10 Uhr wird er die Ewige Flamme unter dem Are de Triomphe neu entfachen, um elf die Heilige Messe in Notre-Dame besuchen, um 12 Uhr 30 in Montvalerien vor dem Schrein der Märtyrer der Resistance stille
Einkehr halten und anschließend zum Lunch in den Elysee-Palast zurückfahren. Nach dem Mittagsschlaf folgt am Nachmittag noch eine weitere Veranstaltung — die Überreichung der Medailles de la Liberation an zehn Veteranender Widerstandsbewegung, deren Verdienste um die Sache der Resistance damit eine späte Anerkennung erfahren sollen.
Das wird sich um 16 Uhr auf dem Platz vor der Gare Montparnasse abspielen. Er hat den Ort selbst ausgesucht. Wie Sie wissen, haben die Ausschachtungsarbeiten für den neuen Bahnhof, der fünfhundert Meter vom alten entfernt gebaut wird, bereits begonnen. Wo jetzt noch die Bahnhofsgebäude stehen, soll ein Geschäftshochhaus nebst Shopping-Center errichtet werden. Wenn die Bauarbeiten nach Plan verlaufen, dürfte dies der letzte Befreiungstag sein, an dem die Fassade des alten Bahnhofs noch steht.«
«Welche Sicherungs- und Absperrungsmaßnahmen sind vorgesehen?«fragte Lebel.
«Nun, mit dieser Frage haben wir uns alle gemeinsam ausgiebig befaßt. Die Menge soll bei sämtlichen Kundgebungen sehr viel weiter als bisher üblich vom Schauplatz der jeweiligen Zeremonie entfernt bleiben. Einige Stunden vor Beginn jeder Veranstaltung werden zunächst die Sperrgitter errichtet und dann innerhalb des abgeriegelten Gebiets alle Häuser und Hinterhäuser von oben bis unten durchsucht, Torwege und Innenhöfe inspiziert und selbst die Gullys in Augenschein genommen. Vor und während der Feierlichkeiten postieren wir auf jedem benachbarten Dach bewaffnete Beobachter, die die gegenüberliegenden Dächer und Fenster ständig im Auge behalten. Außer den Kabinettsmitgliedern, den Mitgliedern des Senats und der Depurtiertenkammer sowie natürlich den unmittelbaren Teilnehmern an den Feierlichkeiten darf niemand die Absperrung passieren.
Wir haben diesmal außerordentlich weitgehende Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Selbst die Gesimse sowohl im Kirchenschiff als auch an der Außenfront von Notre-Dame werden bis unters Dach und zwischen den Türmen mit Polizeibeamten besetzt sein.
Sämtliche Priester, die an der Messe teilnehmen, sollen auf Waffen durchsucht werden, desgleichen die Meßdiener und Chorknaben. Für den Fall, daß er sich als Sicherheitsbeamter tarnen sollte, werden bei Morgengrauen besondere Abzeichen an alle Polizei- und CRS-Kräfte ausgegeben.
In den letzten vierundzwanzig Stunden ist der Citroen, in dem der Präsident fahren wird, heimlich mit kugelsicheren Scheiben ausgerüstet worden. Ich muß Sie übrigens bitten, hierüber kein
Sterbenswörtchen verlauten zu lassen. Der Präsident darf davon nichts wissen. Er wäre außer sich, wenn es ihm zu Ohren käme. Wie immer wird Marroux ihn fahren, und er ist angewiesen, ein rascheres Tempo als sonst zu nehmen, für den Fall, daß unser Freund versuchen sollte, auf den fahrenden Wagen zu schießen. Ducret hat ein Aufgebot besonders hochgewachsener Offiziere und Beamter mobilisiert, die sich, ohne daß es dem General auffällt, möglichst eng um ihn scharen werden.
Unabhängig davon soll ausnahmslos jeder, der sich ihm auf zweihundert Meter nähert, durchsucht werden. Das wird uns todsicher Ärger mit dem Diplomatischen Corps einbringen, und die Presse droht bereits mit einem Aufstand. Sämtliche Presse- und Diplomatenausweise werden morgen in aller Frühe überraschend gegen neue ausgetauscht, damit sich der Schakal nicht unter diese Leute schmuggeln kann. Überflüssig zu sagen, daß die Polizei angewiesen ist, jeden, der mit einem Paket oder einem länglichen Gegenstand unter dem Arm angetroffen wird, sofort abzuführen. Nun, Kommissar, haben Sie darüber hinaus irgendwelche Vorschläge zu machen?«
Lebel überlegte einen Augenblick, wobei er wie ein Schuljunge, der sich seinem Direktor gegenüber zu rechtfertigen sucht, seine Hände abwechselnd rieb und zwischen die Knie steckte. In der Tat empfand er als Polizeibeamter, der sich von unten heraufgedient und sein Leben damit verbracht hatte, Gesetzesbrecher zur Strecke zu bringen, indem er seine Augen ein bißchen weiter aufsperrte als andere Leute, manche Errungenschaften der Fünften Republik durchaus eindrucksvoll.
«Ich glaube nicht«, sagte er schließlich,»daß er das Risiko eingehen wird, eventuell selbst bei der Sache draufzugehen. Er ist ein Söldner, er tötet für Geld. Er will mit heiler Haut davonkommen und sein Geld genießen. Und er hat seinen Plan bis ins einzelne ausgearbeitet, als er in der letzten Juliwoche auf seiner Erkundungsreise hier war. Wenn er die Erfolgschancen seines Vorhabens oder die Fluchtmöglichkeiten auch nur im geringsten bezweifelte, wäre er längst aus der Sache ausgestiegen.
Er muß also noch irgend etwas in petto haben. Er konnte von selbst darauf kommen, daß es einen Tag im Jahr gibt — den Tag der Befreiung —, an welchem es dem General der eigene Stolz, gleichgültig, welche Gefahr für sein Leben damit verbunden sein mag, strikt verbietet, zu Hause zu bleiben.Er dürfte sich auch darüber im klaren sein, daß die Sicherungsmaßnahmen, besonders seit uns seine Anwesenheit zur Kenntnis gelangt ist, so sehr verstärkt worden sind, wie Sie, Monsieur le Ministre, es soeben geschildert haben. Und doch hat er nicht aufgegeben.«
Lebel stand auf und begann höchst protokollwidrig im Arbeitszimmer des Ministers auf und ab zu gehen, während er in seinen Überlegungen fortfuhr:
«Er hat nicht aufgegeben. Und er wird auch nicht aufgeben. Warum? Weil er überzeugt ist, daß er seinen Auftrag erledigen und mit heiler Haut davonkommen kann. Folglich muß er auf irgendeine Möglichkeit verfallen sein, an die noch niemand gedacht hat. Vielleicht eine Bombe, die durch Fernzündung zur Explosion gebracht wird, oder ein entsprechendes Gewehr. Aber eine Bombe kann zu leicht entdeckt werden, und damit wäre das Vorhaben gescheitert. Also ist es eine Schußwaffe. Deswegen mußte er im Wagen nach Frankreich einreisen. Das Gewehr war im Wagen, vermutlich ans Chassis geschweißt oder irgendwie in der Auskleidung der Karosserie versteckt.«
«Aber mit einem Gewehr kommt er doch nie an de Gaulle heran!«rief der Minister aus.»Niemand wird in seine Nähe gelassen, außer einigen wenigen ausgesuchten Leuten, und die werden vorher auf Waffen durchsucht. Wie sollte ein Mann mit einem Gewehr jemals durch die Absperrung kommen?«
Lebel unterbrach seine Wanderung durchs Zimmer und blieb vor dem Schreibtisch des Ministers stehen. Er zuckte mit den Achseln.
«Ich weiß es nicht. Aber er ist überzeugt, daß er es kann, und bislang hat er recht behalten, obwohl er einiges Pech gehabt hat — aber auch einiges Glück. Obwohl er von zwei der besten Polizeiapparate der Welt ausgemacht und gejagt wurde, ist er hier. Mit einem Gewehr, in einem Schlupfwinkel, womöglich mit einem wieder anderen Gesicht und mit einer weiteren Identitätskarte. Eines ist sicher, Monsieur le Ministre. Wo immer er auch ist, morgen muß er auftauchen. Und sobald er das tut, muß er als das erkannt werden, was er ist. Da gibt's nur noch eins — die alte Detektivregel, daß man die Augen offenhalten muß. Mehr, Monsieur le Ministre, habe ich, was die Sicherheitsvorkehrungen betrifft, nicht vorzuschlagen. Sie scheinen mir in der Tat umfassend, ja überwältigend zu sein. Ich kann Sie nur bitten, mich bei jeder der Veranstaltungen umherstreifen und versuchen zu lassen, ob ich ihn entdecke. Das ist alles, was jetzt noch übrigbleibt.«