Der Minister war enttäuscht. Er hatte auf irgendeine Eingebung, eine brillante Idee des Detektivs gehofft, der von Bouvier noch vor vierzehn Tagen als der beste in ganz Frankreich bezeichnet worden war. Und dieser Mann wußte ihm nichts anderes zu sagen, als daß er die Augen aufhalten müsse. Der Minister erhob sich.
«Aber selbstverständlich«, sagte er kalt.»Bitte tun Sie das,
Monsieur le Commissaire. «
Später am gleichen Abend begann der Schakal in Jules Bernards Schlafzimmer mit seinen Vorbereitungen. Neben die ausgetretenen schwarzen Schuhe hatte er die grauen Wollsocken, die Hose und das kragenlose Hemd, den langen Militärmantel mit einer Reihe angehefteter
Orden und Medaillen sowie das schwarze beret des Kriegsveteranen Andre Martin auf das Bett gelegt. Die in Brüssel gefälschten Papiere, die dem Träger der ausgebreiteten Kleidungsstücke eine neue Identität verschafften, warf er dazu. Auch den leichten Gurt aus dichtgewebtem Material, den er sich in London hatte anfertigen lassen, sowie die fünf Stahlröhren, die wie aus Aluminium aussahen und den Kolben, das Schloß, den Lauf, das Zielfernrohr und den Schalldämpfer des Gewehrs enthielten, legte er auf das Bett, desgleichen den schwarzen Gummipfropf, in welchem die fünf Explosivgeschosse steckten. Er entnahm dem Propf en zwei der Geschosse und knipste ihnen mit der Kneifzange aus dem Handwerkskasten unter dem Küchenausguß vorsichtig die Spitze ab. Dann holte er die beiden in den Geschossen befindlichen Korditstäbchen heraus und legte sie sorgsam zur Seite, während er die entleerten Patronenhülsen in den Aschenkasten warf. Ihm verblieben noch drei Geschosse, und das genügte.
Er hatte sich zwei Tage lang nicht rasiert, und ein leichter goldener Stoppelbart wuchs ihm auf Kinn und Wangen. Er würde ihn mit dem Klapprasiermesser, das er bei seiner Ankunft in Paris erstanden hatte, in absichtlich unbeholfener Weise entfernen. Die After-shave-lotion-Flaschen, in denen sich das Haarfärbemittel befand, das er bereits für Pastor Jensen benutzt hatte, wie auch das Lösungsmittel standen ebenfalls auf dem Regal im Badezimmer. Marty Schulbergs Kastanienbraun hatte er sich bereits aus seinem jetzt wieder blonden Haar herausgespült, das er vor dem Badezimmerspiegel kürzer und kürzer schnitt, bis es in bürstenartigen Büscheln zu Berge stand.
Er überprüfte nochmals seine Vorbereitungen für den kommenden Tag, um sicherzugehen, daß er an alles gedacht hatte. Dann machte er sich ein Omelett, ließ sich vor dem Fernseher bequem nieder und betrachtete eine Varieteschau, bis es Zeit wurde, schlafen zu gehen.
Der 25. August 1963 war ein glühendheißer Sonntag. Wie ein Jahr und drei Tage zuvor, als Oberstleutnant Bastien-Thiry und seine Männer bei dem Überfall in Petit-Clamart versucht hatten, Charles de Gaulle ums Leben zu bringen, bescherte er Paris den Höhepunkt der sommerlichen Hitzewelle. Daß ihre Tat eine Kette folgenschwerer Ereignisse auslöste, die erst am Nachmittag dieses Sommersonntags abreißen sollte, hatte keiner der damaligen Verschwörer ahnen können.
Aber wenn auch Paris seine an diesem Tag neunzehn Jahre zurückliegende Befreiung von den Deutschen feierte, so gab es doch fünfundsiebzigtausend Pariser, die nicht mitfeierten, sondern in blauen Sergehemden und zweiteiligen Uniformen schwitzten und ihre Mitbürger zu Ruhe und Ordnung anhielten. Die von ekstatischen Presseartikeln angekündigten Feierlichkeiten zu Ehren des Tags der Befreiung hatten massenhaften Zulauf. Die Mehrzahl derjenigen, die ihnen beiwohnten, erhielt freilich kaum Gelegenheit, das Staatsoberhaupt auch nur flüchtig zu sehen, das zwischen dichten Reihen von Polizisten und Sicherheitsbeamten dahinschritt, um die Gedächtnisfeierlichkeiten zu zelebrieren.
Zusätzlich zur Kohorte ausgesuchter Offiziere und Zivilbeamter, die, hoch erfreut ob der überraschenden Ehre, dem unmittelbaren Gefolge des Präsidenten anzugehören, nicht begriffen hatten, daß die einzige ihnen gemeinsame Qualifikation hierzu in ihrer überdurchschnittlichen Körpergröße bestand und jeder von ihnen dem Präsidenten als lebender Schild diente, wurde General de Gaulle von seinen vier Leibwächtern vor den Blicken der Menge abgeschirmt.
Glücklicherweise verhinderte seine Kurzsichtigkeit im Verein mit seiner beharrlichen Weigerung, sich der Öffentlichkeit mit Brille zu präsentieren, daß er die bulligen Gestalten Roger Tessiers, Paul Comitis, Raymond Sasias und Henry d'Jouders zur Kenntnis nahm, die ihn beiderseits auf Tuchfühlung flankierten.
Für die Presseleute waren sie» Gorillas«, und viele glaubten, der Ausdruck bezöge sich lediglich auf das Aussehen dieser Männer. Tatsächlich aber meinte er auch ihre Gangart, für die es übrigens einen konkreten Grund gab. Jeder von ihnen war ein Experte in allen Kampf arten und hatte ungemein muskulöse Schultern und einen entsprechenden Brustkasten. Bei der geringsten Muskelanspannung wurden ihre Arme durch den seitlichen Zug der Rückenmuskulatur vom Körper weggedrängt, so daß sie — in deutlichem Abstand zu ihm — zwangsläufig in die typische Pendelbewegung gerieten. Zudem trugen die vier ihre bevorzugte Automatic unter der linken Achsel, was den gorillahaften Gang noch betonte. Sie gingen mit halbgeöffneten Händen, die blitzschnell zum Halfter greifen und die Waffe hervorziehen konnten, um beim ersten Anzeichen akuter Gefahr das Feuer zu eröffnen.
Aber es gab keinerlei Anlaß für derlei Reflexbewegungen. Die Zeremonie unter dem Triumphbogen verlief genau nach Plan, während rundum auf den Dächern der die Place de l'Etoile umgebenden Häuser Männer mit Feldstechern und Karabinern hinter Schornsteingruppen hockten und die Szenerie wachsam beobachteten. Als die Automobilkolonne des Präsidenten schließlich die Champs Elysees hinunter in Richtung Notre-Dame davonbrauste, atmeten sie allesamt erleichtert auf und kamen wieder herunter. Vor und in der Kathedrale war es das gleiche. Der Kardinalerzbischof von Paris zelebrierte, flankiert von Prälaten und anderen Geistlichen, die beim Anlegen ihrer Gewänder ausnahmslos überwacht worden waren, die heilige Messe. Auf der Orgelempore hockten zwei mit geladenen Karabinern bewaffnete Männer, von deren Anwesenheit selbst der Erzbischof nichts wußte, und behielten die unten im Kirchenschiff versammelte Menge im Auge. Unter die Andächtigen hatten sich zahllose Polizeibeamte in Zivil gemischt, die zwar nicht knieten und die Augen schlössen, aber ebenso inständig wie die Gläubigen ihre Gebete das alte Polizistengebet beteten:»O Herr, gib, daß es nicht geschieht, wenn ich Dienst habe.«
Draußen wurden mehrere Zuschauer, obwohl sie zweihundert Meter vom Portal der Kathedrale entfernt standen, kurzerhand abgeführt, weil sie in ihre Taschen gegriffen hatten. Einer hatte sich unter dem Arm gekratzt, ein anderer seine Zigarettenpackung hervorholen wollen.
Und noch immer geschah nichts. Von keinem Hausdach knallte ein Gewehrschuß, auch krachte keine Bombe. Die Polizisten kontrollierten sich sogar gegenseitig und vergewisserten sich ständig, ob ihre Kollegen auch das Abzeichen auf dem Revers ihrer Uniformjacken trugen, das jeder von ihnen erst an diesem Morgen erhalten hatte, damit der Schakal es sich nicht noch beschaffen oder anfertigen lassen und sich als Polizist kostümieren konnte. Ein CRS-Mann, der sein Abzeichen verloren hatte, wurde auf der Stelle festgenommen und in einen wartenden Polizeiwagen verfrachtet. Man nahm ihm die Maschinenpistole ab, und es wurde Abend, ehe man ihn wieder freiließ — und das auch nur, nachdem insgesamt zwanzig seiner Kollegen ihn persönlich identifiziert und sich für ihn verbürgt hatten.
In Montvalerien erreichte die Spannung dann ihren Höhepunkt. Ob der Präsident sie überhaupt zur Kenntnis nahm, muß dahingestellt bleiben; falls ihm etwas auffiel, ließ er sich doch nichts anmerken. Die Sicherheitsbeamten schätzten, daß dem General, solange er sich in dem zur Gedenkstätte umgewandelten Beinhaus aufhielt, keine Gefahr drohe, daß dagegen die durch die engen Straßen dieses Arbeiterviertels führende Anfahrt zu dem alten Gefängnisbau, bei der die Wagenkolonne vor jeder Straßenecke die Fahrt verlangsamen mußte, dem Mörder sehr wohl Gelegenheit zu dem geplanten Attentatsversuch bieten würde.