Der Schakal befand sich zu jenem Zeitpunkt ganz woanders.
Pierre Valremy hatte die Nase voll. Ihm war heiß, die verschwitzte Uniformbluse klebte ihm am Rücken, an der Schulter scheuerte ihm der Gurt des umgehängten Schnellfeuerkarabiners durch den groben Stoff der Bluse hindurch die Haut wund, er hatte Durst, und auf das Mittagessen mußte er zu all dem auch noch verzichten. Er begann es zu bereuen, dem CRS jemals beigetreten zu sein.
Dabei hatte alles so rosig ausgesehen, als er unter Hinweis auf die Notwendigkeit zu personellen Einsparungsmaßnahmen aus der Fabrik entlassen worden war und ihn der Mann auf dem Arbeitsamt auf das Plakat an der Wand hinwies, das einen strahlenden jungen Mann in der Uniform des CRS zeigte, der aller Welt beteuerte, einen interessanten Job mit
Aufstiegsmöglichkeiten und der Aussicht auf ein abenteuerliches Leben gefunden zu haben. Die Uniform auf dem Bild sah aus, als sei sie von Balenciaga persönlich maßgeschneidert. Kurz entschlossen hatte Valremy unterschrieben.
Vom Leben in der Kaserne, die wie ein Gefängnis aussah und in der Tat einst genau das gewesen war, hatte ihm keiner etwas erzählt. Auch nicht vom ewigen Drill oder von den häufigen Nachtübungen und ebensowenig von dem kratzenden Serge der Uniformbluse und dem stundenlangen Herumstehen an Straßenecken, wo er bei bitterer Kälte wie bei sengender Hitze auf den» großen Fang «gewartet hatte, der niemals kam. Die Papiere der Leute waren immer in Ordnung, und das genügte, um einen in den Suff zu treiben.
Und jetzt diese Reise nach Paris — das erste Mal in seinem Leben, daß er aus Rouen herausgekommen war. Er hatte gedacht, er bekäme etwas von der Stadt des Lichts zu sehen — aber weit gefehlt. Das war nicht drin, nicht mit Sergeant Barbichet als Zugführer. Statt dessen nur das übliche, und davon sogar mehr als üblich.
«Die Absperrung da drüben, Valremy. Da stellen Sie sich jetzt hin und passen auf. Achten Sie darauf, daß die Leute die Barriere nicht wegschieben, und lassen Sie niemanden durch, der nicht dazu befugt ist, klar? Sie haben eine verantwortungsvolle Aufgabe.«»Verantwortungsvoll «war gut. Mann, die drehten aber wirklich schon ganz schön durch wegen ihrer Pariser Befreiungsfeier. Schafften da Tausende von Soldaten aus der Provinz in die Stadt, um die Pariser Truppen zu verstärken. Männer aus zehn verschiedenen Städten waren letzte Nacht in seinem Quartier untergebracht gewesen, und die aus Paris hatten da so was von einem Gerücht läuten hören, daß irgeneiner von denen da oben glaubte, irgendwas würde noch passieren heute — weswegen denn auch sonst die ganze Aufregung? Na ja, waren ja alles bloß Gerüchte. Es passierte ja doch nie was.
Valremy drehte sich um und blickte die rue de Rennes hinauf. Die Barriere, die er bewachte, gehörte zu einer Reihe gleichartiger Sperrgatter, die sich etwa zweihundertfünfzig Meter vor dem Place du 18 Juin von Haus zu Haus quer über die Straße erstreckten. In seinem Rücken erhob sich das zweihundertfünfzig Meter jenseits des Platzes befindliche Bahnhofsgebäude, auf dessen Vorplatz die Feierstunde abgehalten werden sollte. Zum Bahnhof zurückblickend, konnte er dort eine Anzahl Männer die Plätze markieren sehen, auf denen die Kriegsveteranen, die in- und ausländischen Würdenträger und die Musikkapelle der Garde Republicaine Aufstellung nehmen würden. Noch drei Stunden. Herrgott, wollte die Zeit denn gar nicht verstreichen?An den Sperrgattern begannen sich die ersten Zuschauer einzufinden. Es gab eben Menschen, die eine sagenhafte Geduld hatten, dachte er. Das mußte man sich mal vorstellen — freiwillig bei dieser Hitze stundenlang zu warten, bloß um dreihundert Meter weit weg eine Menge Köpfe zu sehen und zu wissen, daß irgendwo mitten darunter Charles de Gaulle sein mußte. Und doch waren sie immer zur Stelle, wenn es hieß, er käme.
Es mochten inzwischen etwa hundert bis zweihundert Personen geworden sein, die einzeln und in Gruppen hinter der Absperrung standen, als er den alten Mann sah. Er kam die Straße hinuntergehumpelt, als würde er keine fünfhundert Meter mehr hinter sich bringen. Das schwarze beret war voller Schweißflecken, und der lange Militärmantel hing ihm lappig bis unter das Knie. Von seiner Brust baumelte eine Reihe leise klimpernder Medaillen. Tiefes Mitleid lag in den Blicken, mit denen einige der Leute hinter der Absperrung die jammervolle Gestalt bedachten.
Diese kauzigen Opas bewahrten doch immer noch ihre uralten Medaillen auf, als seien sie das einzige, was das Leben ihnen je beschert hatte, dachte Valremy. Na ja, vielleicht waren sie wirklich das einzige, was einige von ihnen noch besaßen. Besonders, wenn einem ein Bein abgeschossen worden war. Vielleicht hat er sich ja ein bißchen umgetan, als er noch jung war und zwei Beine hatte, auf denen er den Weibern nachlaufen konnte, sagte sich Valremy, während er den langsam heranhumpelnden alten Mann nicht aus den Augen ließ. Jetzt sah er aus wie die am Felsen zerschmetterte alte Seemöwe, die der CRS-Mann einmal am Strand von Kermadec gesehen hatte.
Menschenskind noch mal, das mußte man sich bloß mal vorstellen, wie das wäre, wenn man für den Rest seines Lebens auf einem Bein umherhumpelte und wie der da ohne seine Aluminiumkrücke keinen Schritt mehr vom Fleck käme.
Der Mann humpelte auf ihn zu.
«Jepeuxpasser?« fragte er ängstlich.
«Na, dann zeigen Sie mir erst mal Ihren Ausweis, Opa.«
Der Veteran griff fahrig in die Brusttasche seines Hemdes, das dringend der Reinigung bedurft hätte. Er zog zwei Ausweiskarten hervor, die Valremy eingehend in Augenschein nahm. Andre Martin, französischer Staatsbürger, dreiundfünfzig Jahre alt, geboren in Colmar im Elsaß, wohnhaft in Paris. Die andere Karte war auf denselben Namen ausgestellt und
«Mutile de Guerre«-
Kriegsversehrter — überschrieben. Allerdings, dachte Valremy, erwischt hat's dich, und das nicht zu knapp.
Er betrachtete die Photos auf den beiden Ausweisen. Sie zeigten den gleichen Mann, waren aber zu verschiedenen Zeitpunkten aufgenommen. Er blickte auf.»Nehmen Sie das beret ab. «Der alte Mann nahm die Mütze ab und knäuelte sie in der Hand zusammen. Valremy verglich das Gesicht vor ihm mit dem auf den Photos abgebildeten. Es war dasselbe. Der Mann, der vor ihm stand, sah krank aus. Er hatte sich beim Rasieren mehrfach geschnitten und das Blut mit kleinen Fetzen von Toilettenpapier, die auf den Schnittwunden klebten, zu stillen versucht. Sein Gesicht war grau und von einer fettigen Schweißschicht bedeckt. Über der Stirn stand das vom Abnehmen der Mütze durcheinandergebrachte graue Haar büschelweise in alle Himmelsrichtungen vom Schädel ab. Valremy reichte ihm die Ausweise zurück.
«Wozu wollen Sie denn hier durchgehen?«»Ich wohne da«, sagte der alte Mann.»Ich lebe von meiner Rente. Ich habe eine Mansarde.«
Valremy entriß dem Alten nochmals die Ausweise, um die darauf angegebene Adresse zu überprüfen. Die Identitätskarte gab sie mit 154 rue de Rennes, Paris 6ieme, an. Der CRS-Mann sah zu dem Haus hinauf, vor dem er stand. Das Schild über dem Eingang trug die Nummer 132.154 mußte sich demnach ein Stück weiter die Straße hinunter befinden. Einen alten Mann passieren zu lassen, der nach Hause wollte, konnte schließlich nicht verboten sein.»Also gut, gehen Sie. Aber machen Sie mir keinen Ärger. In einer Stunde kommt Charlemagne.«
Der alte Mann lächelte, steckte seine Ausweise ein und wäre auf seinem einen Bein und seiner Krücke womöglich noch ins Stolpern geraten, wenn ihn Valremy nicht hilfreich gestützt hätte.