«Ich weiß. Einer von meinen alten Kameraden bekommt heute seine Medaille. Ich habe meine vor zwei Jahren gekriegt«, er tippte auf die Medaille de la Liberation auf seiner Brust,»aber nur vom Verteidigungsminister. «
Valremy warf einen Blick auf die Auszeichnung. Also das war die Befreiungsmedaille. Verdammt kleines Ding, was sie einem dafür gaben, daß man sich ein Bein abschießen ließ.
Er erinnerte sich plötzlich seiner amtlichen Würde und entließ den Veteran mit einem flüchtigen Nicken. Der alte Mann humpelte mühsam davon.Valremy drehte sich um und drängte einen Passanten zurück, der ebenfalls durch die Absperrung zu schlüpfen versuchte.»Nichts da, treten Sie hinter die Barriere zurück.«
Das letzte, was er von dem alten Soldaten sah, der ganz am Ende der Straße unmittelbar vor dem Platz in einem Hauseingang verschwand, waren die langen Schöße des Militärmantels. Madame Berthe sah überrascht auf, als der Schatten auf sie fiel. Es war ein anstrengender Tag gewesen, mit all den Polizisten in sämtlichen Wohnungen, und sie wagte sich nicht auszumalen, was die Mieter wohl dazu gesagt hätten, wenn sie dagewesen wären. Zum Glück waren sie alle bis auf drei in den Sommerferien.
Als die Polizei abzog, hatte sie sich endlich auf ihrem gewohnten Platz im Hauseingang niederlassen und in Ruhe noch ein wenig stricken können. Die offiziellen Feierlichkeiten, die in zwei Stunden auf dem hundert Meter entfernten Bahnhofsvorplatz beginnen sollten, interessierten sie nicht im mindesten.
«Excusez-moi, madame, ich dachte — dürfte ich Sie vielleicht um ein Glas Wasser bitten? Es ist so heiß draußen, und wenn man bei der feierlichen Ordensverleihung zuschauen möchte…«Sie sah das Gesicht und die Gestalt eines alten Mannes vor sich, der in einem Militärmantel steckte, wie ihr verstorbener Mann ihn einst getragen hatte, mit Medaillen, die knapp unterhalb des Kragenaufschlags auf der linken Brustseite hin und herschwangen. Er stützte sich schwer auf seine Krücke, und unter dem Mantelsaum sah nur ein Bein hervor. Sein Gesicht war mager und verschwitzt. Madame Berthe legte ihr Strickzeug zusammen und steckte es in die Schürzentasche.
«Oh, monpauv'monsieur. So herumzulaufen- und bei der Hitze. Die Feier fängt erst in zwei Stunden an. Sie haben noch viel, viel Zeit. Kommen Sie, kommen Sie doch herein.«
Sie eilte ihm in ihre durch eine Glastür von der Halle abgetrennte Wohnung voraus. Der Kriegsveteran humpelte ihr nach.
Das Rauschen des Wasserstrahls aus dem Zapfhahn in der Küche ließ sie nicht hören, wie die Tür geschlossen wurde; sie spürte kaum, daß sich die Finger der Linken des Mannes um ihren Unterkiefer legten. Und das Knirschen der unmittelbar hinter ihrem rechten Ohr eingedrückten Knöchelchen am Warzenfortsatz ihres Schläfenbeins kam völlig überraschend. Das Bild des laufenden Wasserhahns mit dem Glas darunter zerplatzte in tausend rote und schwarze Flecken, und ihr Körper glitt schlaff zu Boden.
Der Schakal knöpfte seinen Mantel auf und löste den Gurt, mit dem er sich den rechten Unterschenkel unter das Gesäß gebunden hatte. Als er das verkrampfte Bein abwechselnd streckte und beugte, um die Durchblutung anzuregen, verzog sich sein Gesicht vor Schmerz. Es dauerte einige Minuten, bevor er wieder mit dem Bein auftreten und es mit seinem Gewicht belasten konnte.
Fünf Minuten später war Madame Berthe mit der Wäscheleine, die er unter dem Ausguß fand, an Händen und Füßen gefesselt und ihr Mund mit einem großen Heftpflaster zugeklebt. Er schleifte sie in die Waschküche und schloß die Tür. Eine rasche Durchsuchung des Wohnzimmers förderte die in der Tischschublade liegenden Wohnungsschlüssel zutage. Er knöpfte sich den Mantel zu, nahm die Krücke wieder auf — dieselbe, mit der er zwölf Tage zuvor auf den Flughäfen von Brüssel und Mailand durch die Zollkontrolle gehumpelt war — und schaute vorsichtig hinaus. Die Halle war leer. Er verließ das Wohnzimmer der Concierge, schloß hinter sich ab und rannte die Treppen hinauf.
Im sechsten Stock klopfte er an die Wohnungstür von Mlle. Beranger. Nichts. Er wartete ein paar Sekunden und klopfte dann nochmals. Weder aus dieser noch aus der benachbarten Wohnung von M. und Mme. Charrier drang ein Laut. Er holte die Schlüssel aus der Tasche, suchte nach dem Schildchen mit dem Namen Beranger, fand es und betrat die Wohnung. Rasch zog er die Tür hinter sich zu und schloß ab. Er durchquerte den Raum und sah aus dem Fenster. Männer in blauen Uniformen bezogen auf den Dächern der gegenüberliegenden Häuser Posten. Er war gerade noch zur rechten Zeit gekommen. Mit ausgestrecktem Arm entriegelte er leise das Fenster und zog die Flügel so weit auf, daß sie die Wohnzimmerwand berührten. Dann trat er ein paar Schritte zurück. Ein breiter Lichtstrahl fiel schräg durchs Fenster auf den Teppich und ließ das Zimmer dunkler erscheinen. Solange er nicht in den Bereich dieses Lichtstrahls trat, würden ihn die Beobachter vom gegenüberliegenden Hausdach aus nicht sehen können.
Im Schatten der zurückgezogenen Gardine schlich er sich dicht neben das Fenster und stellte fest, daß er nach unten auf den hundertdreißig Meter entfernten Bahnhofsvorplatz sehen konnte.
Er rückte den Wohnzimmertisch von der Seite her bis auf zweieinhalb Meter an das Fenster heran, nahm die Decke und die Vase mit den künstlichen Blumen herunter und legte ein paar Kissen von den Sesseln darauf. Sie sollten ihm als Schießauflage dienen.Dann zog er den
Militärmantel aus und krempelte sich die Ärmel hoch. Die Krücke wurde Stück für Stück auseinandergenommen und der an ihrem unteren Ende befestigte Gummipfropf, in welchem die restlichen drei Explosivgeschosse steckten, abgeschraubt. Die von der Einnahme des Schießpulvers aus den anderen beiden Geschossen herrührende Übelkeit, der er sein so überzeugend elendes, schweißfeuchtes Aussehen verdankte, begann erst jetzt abzuklingen.
Er schraubte ein weiteres Teilstück der Krücke auf und ließ den Schalldämpfer herausgleiten. Dem nächsten entnahm er das Zielfernrohr. Dort, wo sich die beiden oberen Streben der Krücke vereinigten, war der Durchmesser der Stahlröhren am größten. Dieser Teil enthielt den Verschluß und den Lauf des Gewehrs. Aus dem ypsilonförmig gegabelten Rahmen holte er die beiden Stahlröhren heraus, die, zusammengesetzt, den Gewehrkolben bildeten. Zuletzt kam die mit einer Lederpolsterung für die Achsel versehene obere Querstrebe der Krücke an die Reihe, in welcher lediglich der Abzug des Gewehrs versteckt war. Über den Gewehrkolben gestülpt, wurde die ausgepolsterte Strebe zur Schulterstütze.
Liebevoll setzte er das Gewehr zusammen — Verschluß und Lauf, obere und untere Kolbenstrebe, Schulterstütze, Schalldämpfer und Abzugszunge. Zu guter Letzt streifte er das Zielfernrohr über den Lauf und drehte es fest.
Er stellte einen Stuhl hinter den Tisch, setzte sich und spähte, leicht über das auf den Kissen aufliegende Gewehr gebeugt, durchs Zielfernrohr. Der sonnenbeschienene Bahnhofsvorplatz jenseits der Place du 18 Juin sprang ihm entgegen. Der Kopf eines der Männer, die noch immer damit beschäftigt waren, die Aufstellungsplätze für die bevorstehenden Feierlichkeiten zu markieren, erschien in gestochener Schärfe im Blickfeld. Er war ebenso groß, wie die Melone auf der Lichtung im Ardenner Wald aussah.
Zufrieden stellte er die drei Patronen, wie Soldaten ausgerichtet, am Rand der Tischplatte auf. Mit Daumen und Zeigefinger zog er den Gewehrriegel zurück und führte das erste Geschoß in die Kammer ein. Eines würde genügen, aber er hatte noch zwei weitere in Reserve. Er schob den Riegel wieder vor und schloß ihn mit einer halben Drehung. Dann legte er das Gewehr sorgsam auf die Kissen zurück und suchte in seinen Taschen nach Zigaretten und Streichhölzern.
Er zog gierig an der ersten Zigarette und lehnte sich zurück, um eindreiviertel Stunden zu warten.