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EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL

Kommissar Claude Lebel fühlte sich, als hätte er in seinem ganzen Leben noch nie ein Glas Wasser zu trinken bekommen. Sein Mund war trocken, und seine Zunge klebte ihm am Gaumen, als ob sie dort angeschweißt sei. Aber es war keineswegs nur die Hitze, die ihm dieses Gefühl verursachte. Zum erstenmal seit vielen Jahren bekam er es wirklich mit der Angst zu tun. Heute nachmittag, dessen war er ganz sicher, würde etwas passieren, aber auf das Wie und Wann hatte er noch immer keinen Hinweis entdecken können. Er war an diesem Morgen sowohl beim Arc de Triomphe als auch in der Kathedrale von Notre-Dame und in Montvalerien gewesen. Nicht der geringste Zwischenfall hatte sich ereignet. Beim gemeinsamen Mittagessen mit einigen der Mitglieder des Sonderkomitees, das bei Morgengrauen zum letztenmal im Innenministerium getagt hatte, war er Zeuge des Stimmungswandels geworden, in dessen Verlauf angstvolle Spannung und ohnmächtiger Zorn unversehens in fast so etwas wie Euphorie umschlugen. Nur eine einzige Feierlichkeit stand jetzt noch aus, und wie man ihm versichert hatte, war die unmittelbare Umgebung der

Place du 18 Juin mit beispielloser Gründlichkeit durchkämmt und hermetisch abgeriegelt worden.

«Er ist weg«, sagte Rolland, als er in Begleitung der Männer, mit denen er unweit des Elysee-Palastes, wo der Präsident sein Mittagsmahl einnahm, in einer Brasserie gegessen hatte, auf die sonnenbeschienene Straße hinaustrat.»Und das war zweifellos das Klügste, was er machen konnte. Irgendwann und irgendwo wird er sicher wieder auftauchen, und dann werden ihn meine Männer fassen.«

Jetzt streifte Lebel mutlos am Saum der Menschenmenge entlang, die auf dem Boulevard du Montparnasse zweihundert Meter von der Place du 18 Juin entfernt gehalten wurde — so weit vom Ort der Feierlichkeiten weg, daß niemand etwas von dem zu sehen bekommen würde, was sich dort abspielte. Alle an den Straßensperren postierten Polizeibeamten und CRS-Männer meldeten das gleiche: Keiner hatte auch nur einen Passanten durchgelassen, seit die Abriegelung um 12 Uhr mittags in Kraft getreten war.

Die Hauptstraßen waren gesperrt, die Nebenstraßen waren gesperrt und alle engen Gassen, Durchgänge und Passagen ebenfalls. Die Hausdächer wurden, sofern sie nicht von Wachen besetzt waren, ständig beobachtet, und das Bahnhofsgebäude mit seinen zahllosen bahnamtlichen Büros, deren Fenster auf den Vorplatz hinausgingen, wimmelte von Sicherheitsbeamten. Sie hockten auf den Lokomotivschuppen und hoch über den Bahnsteigen, auf deren Gleisen kein Zug einlief; für die Dauer des Nachmittags war der Eisenbahnverkehr zur Gare St-Lazare umgeleitet worden.

Die Polizei hatte jedes Haus im Umkreis vom Keller bis unters Dach durchsucht. Die Mieter waren zum großen Teil verreist, in die Sommerferien an die See oder ins Gebirge gefahren. Kurz, der Sperrkreis um die Place du 18 Juin war, um mit Valentins Worten zu reden,»so fest geschlossen wie das Arschloch einer Maus«. Bei dem Gedanken an die Ausdrucksweise des Kommissars aus der Auvergne mußte Lebel unwillkürlich lächeln. Dann war das Lächeln auf seinem Gesicht urplötzlich wie weggewischt. Auch Valentin hatte den Schakal nicht fassen können.

Lebel wandte sich nach rechts, ging die rue de Vaugirard bis zur ersten Straßenecke hinauf, wandte sich abermals nach rechts und stieß, nachdem er mehrfach seinen Polizeiausweis hatte vorzeigen müssen, am Ende der kurzen rue Littre auf die rue de Rennes. Auch hier bot sich ihm das gleiche Bild: Zweihundert Meter vor dem Platz war die Straße blockiert, die Menschenmenge hinter die Absperrung zurückgedrängt und die Straße bis auf patrouillierende CRS-Männer leer. Er begann erneut die Posten abzugehen.

Irgendwas Besonderes gewesen? Nein, Monsieur le Commissaire. Niemanden durchgelassen, überhaupt niemanden? Nein, Monsieur. Auf dem Bahnhofsvorplatz begann die Musikkapelle der Garde Republicaine ihre Instrumente zu stimmen. Lebel sah auf seine Armbanduhr. Der General mußte jetzt jeden Augenblick eintreffen. Keinen passieren lassen? Überhaupt keinen? Nein, Monsieur, niemanden. Gut so, machen Sie weiter.

Vom Vorplatz her drang ein lauter Kommandoruf herüber, und aus dem Boulevard du Montparnasse donnerte eine Motorradkolonne über die Place du 18 Juin. Lebel sah sie in den Bahnhofsvorplatz einschwenken, während die Polizisten straff salutierten. Aller Augen folgten den glänzenden schwarzen Limousinen. Die nur wenige Meter von ihm entfernte Menschenmenge drängte gegen die Absperrung. Lebel sah zu den Hausdächern hinauf. Verläßliche Burschen, diese Posten da oben. Ohne dem Schauspiel hier unten auch nur einen Blick zu schenken, hockten sie dort auf den Balustraden und behielten die Fenster und Dächer der gegenüberliegenden Häuser im Auge.

Lebel hatte die Westseite der rue de Rennes erreicht. Ein junger CRS-Mann stand breitbeinig in dem engen Durchgang, der zwischen dem letzten der quer über die Fahrbahn errichteten Sperrgatter und dem Haus Nr. 132 verblieben war. Lebel wies ihm seine Karte vor. Der CRS-Mann salutierte.

«Haben Sie irgend jemanden passieren lassen?«

«Nein, Monsieur le Commissaire.«

«Wie lange stehen Sie schon hier?«

«Seit zwölf Uhr, Monsieur. Seit die Straße gesperrt wurde.«

«Und durch diese Lücke hier ist niemand durchgelassen worden?«

«Nein, Monsieur. Das heißt, nur der alte Krüppel, der da hinten wohnt.«

«Welcher Krüppel?«

«Älterer Mann, Monsieur. Kriegsversehrter. Sah hundeelend aus. Hat seine Identitätskarte und den Versehrtenausweis vorgezeigt und seine Adresse mit 154 rue de Rennes angegeben. Also den mußte ich ganz einfach durchlassen, Monsieur le Commissaire. Sah wirklich hundsmiserabel aus, richtig krank. Kein Wunder bei dieser Hitze und in dem schweren Wachmantel. Eigentlich verrückt, so was.«»Wachmantel? «

«Jawohl, Monsieur. Langer, schwerer Mantel. Militärmantel, wie ihn früher mal die alten Soldaten getragen haben. Viel zu heiß für dieses Wetter.«

«Was war los mit ihm?«

«Na ja, dem wird's wohl zu warm gewesen sein, nehme ich an. «»Sie sagten, er sei kriegsversehrt. Was fehlte ihm denn?«»Ein Bein, Monsieur. Kam von ganz da hinten angehumpelt, auf einer Krücke.«

Vom Bahnhofsvorplatz klangen die ersten schmetternden Trompetenstöße herüber. »Allons, enfants de lapatrie, le jour de gloire est arrive…« Einige Zuschauer stimmten die Marseillaise an.»Krücke?«Lebel selbst meinte die eigene Stimme in diesem Augenblick wie aus weiter Ferne zu hören. Der CRS-Mann sah ihn besorgt an.

«Ja, Monsieur, eine Krücke, wie sie jeder Beinamputierte hat. So eine aus Aluminium, glaube ich…«

Lebel drehte sich abrupt um, befahl dem CRS-Mann, ihm zu folgen, und rannte die Straße hinunter.

Sie hatten an der Stirnseite des Bahnhofs im strahlenden Sonnenschein Aufstellung genommen. Längs der Bahnhofsfassade waren die Wagen Stoßstange an Stoßstange vorgefahren. Ihnen gegenüber, vor dem schmiedeeisernen Gitter, das den Vorplatz von der Place du 18 Juin trennte, standen die zehn Veteranen, um ihre Medaillen aus der Hand des Staatsoberhauptes zu empfangen. Auf der Ostseite des Bahnhofsvorplatzes waren die Mitglieder der Regierung und des Diplomatischen Corps versammelt. In ihren dunklen Anzügen bildeten sie einen massiven schwarzen Block, in dem nur da und dort das Band der Ehrenlegion als roter Tupfen aufleuchtete.

Die Garde Republicaine mit den dichten roten Federbüschen auf ihren blitzblanken Helmen war auf der Westseite des Bahnhofsvorplatzes angetreten. Die Musikkapelle stand einen Schritt vor der Front.

Eine Anzahl Protokollbeamter und leitender Funktionäre der Präsidialkanzlei umdrängte eine der am Bahnhofseingang vorgefahrenen Limousinen. Die Musikkapelle intonierte die Marseillaise.

Der Schakal hob das Gewehr und spähte durch das Zielfernrohr auf den Vorplatz hinunter. Er visierte den linken Flügelmann der Kriegsveteranen an, der als erster seine Medaille bekommen würde. Er war klein und untersetzt und hielt sich sehr gerade. Sein Gesicht erschien, nahezu im Vollprofil, scharf durchgezeichnet im Fadenkreuz. In wenigen Minuten würde sich ihm ein anderes hinzugesellen, ein stolzes Gesicht, welches das des Veteranen um dreißig Zentimeter überragte und vom Schirm eines vorn mit zwei goldenen Sternen geschmückten Khaki-Kepis beschattet wurde.