«Marchons, marchons a la victoire…« Wumm-ba-wumm. Die letzten Takte der Nationalhymne waren verklungen, und in die eingetretene Stille hinein gellte das Kommando» Präsentiert das Gewehr!«über den Bahnhofsvorplatz. Ein schlagartiges, dreifach klatschendes Geräusch folgte, als weißbehandschuhte Finger den befohlenen Präsentiergriff im gleichen Takt ausführten. Die um die Limousine versammelte Gruppe teilte sich, und in ihrer Mitte erschien eine einzelne hochgewachsene Gestalt, die jetzt auf die angetretenen Kriegsveteranen zuschritt. Etwa fünfzig Meter vor ihnen blieb die Gruppe stehen. Nur der Minister für die Angelegenheiten ehemaliger Kriegsteilnehmer, der die Veteranen ihrem Präsidenten vorstellen würde, und ein zweiter Mann, der ein Samtkissen trug, auf dem zehn Medaillen und eine gleiche Anzahl farbiger Bänder lagen, folgten Charles de Gaulle.
«Hier?«fragte Lebel. Er war stehengeblieben und deutete keuchend auf einen Hauseingang.»Ich glaube ja, Monsieur. Ja, hier war es. Der vorletzte Eingang.
Hier ist er 'rein.«
Der kleine Detektiv stürzte in den Hauseingang, und Valremy rannte ihm nach. Er war ganz froh, nicht mehr auf der Straße zu sein, wo ihr absonderliches Verhalten Aufsehen erregt und bei einigen der höheren Offiziere auf dem Bahnhofsvorplatz, die jetzt straffe Haltung annahmen, mißbilligendes Stirnrunzeln hervorgerufen hatte. Nun ja, wenn er sich deswegen zum Rapport würde melden müssen, könnte er immer noch sagen, daß der komische kleine Mann sich als Polizeikommissar ausgegeben und er, Valremy, ihn zurückzuhalten versucht habe.
Als er in die Halle stürmte, rüttelte der Detektiv an der Tür zum Zimmer der Concierge.
«Wo ist die Concierge?«schrie er.»Keine Ahnung, Monsieur.«
Bevor er ihn noch daran hätte hindern können, hatte der kleine Mann die Milchglasscheibe mit dem Ellenbogen eingeschlagen, hindurchgelangt und die Tür geöffnet.»Kommen Sie!«rief er und rannte hinein. Und ob ich dir nachkomme! dachte Valremy. Du scheinst mir ja völlig durchzudrehen.
Er fand den kleinen Detektiv in der Waschküche auf dem Fußboden kniend vor. Als er ihm über die Schulter blickte, sah er die Concierge gefesselt am Boden liegen. Sie war noch immer bewußtlos.
«Donnerwetter. «Plötzlich dämmerte ihm, daß der kleine Mann doch kein Spinner, sondern tatsächlich ein Kriminalkommissar war und daß sie beide einen Verbrecher jagten. Dies war der große Augenblick, auf den er gewartet hatte. Er wünschte jetzt nur, er wäre schon wieder heil und wohlbehalten in der Kaserne zurück.
«Oberstes Stockwerk«, rief der Detektiv und begann die Treppen in einem Tempo hinaufzuhetzen, das ihm Valremy, der seinen umgehängten Schnellfeuerkarabiner spannte und entsicherte, während er Lebel nachstürzte, nicht zugetraut hätte.
Der französische Staatspräsident blieb vor dem ersten der angetretenen Veteranen stehen und beugte sich ein wenig zu dem Minister hinab, der ihm erklärte, wer der Mann war und welche Verdienste er sich auf den Tag genau vor neunzehn Jahren erworben hatte. Als der Minister seine Ausführungen beendet hatte, wandte sich der Staatspräsident dem Mann mit dem Kissen zu und nahm eine der darauf liegenden Medaillen zur Hand. Während die Kapelle leise» La Marjolaine «zu intonieren begann, heftete der hochgewachsene General dem vor ihm stehenden älteren Mann die Medaille auf die stolzgeschwellte Brust. Dann trat er einen Schritt zurück und salutierte.
Sechs Stockwerke hoch und hundertdreißig Meter entfernt, hielt der Schakal das Gewehr sehr ruhig im Anschlag und visierte durchs Zielfernrohr. Ganz deutlich konnte er die Gesichtszüge erkennen, die vom Schirm des Kepis beschatteten Brauen, den ernsten Blick, die bugartig vorspringende gewaltige Nase. Er sah ihn die salutierende Hand vom Mützenschirm nehmen, und jetzt befand sich die dargebotene Schläfe haargenau im Fadenkreuz des Zielfernrohrs. Sachte nahm er Druckpunkt und drückte dann ganz ruhig durch…
Bruchteile von Sekunden später starrte er auf den Bahnhofsvorplatz hinunter, als könne er seinen Augen nicht trauen. Noch bevor das Geschoß den Lauf verließ, hatte der französische Staatspräsident unvermittelt den Kopf vorgebeugt. Während der Killer ihn in ungläubigem Staunen beobachtete, küßte er den Mann, der in straffer Haltung vor ihm stand, feierlich auf beide Wangen. Da er einen Kopf größer war als der Veteran, hatte er sich zu ihm vor-und hinabbeugen müssen, um diese bei solchen Anlässen in Frankreich und manchen anderen Ländern übliche, für Angelsachsen jedoch immer wieder verblüffende Geste zu vollführen. Man errechnete später, daß das Geschoß den Kopf des Präsidenten nur um Millimeter verfehlte. Ob er den Peitschenknall hörte, mit dem es auf seiner Flugbahn die Schallmauer durchschlug, ist nicht bekannt. Anzumerken war ihm jedenfalls nichts. Der Minister und der Mann mit dem Ordenskissen hatten nichts gehört, und diejenigen, die fünfzig Meter entfernt standen, ebensowenig.
Das Geschoß bohrte sich in den von der Sonne aufgeweichten Asphaltboden des Bahnhofsvorplatzes und explodierte, ohne Schaden anzurichten, als es gute zwei Zentimeter tief in die Teerschicht eingedrungen war.»La Marjolaine «wurde weitergespielt. Der Präsident richtete sich wieder auf, nachdem er den zweiten Kuß gegeben hatte, und trat gemessenen Schritts auf den nächsten Veteranen zu.
Hinter seinem Gewehr hockend, begann der Schakal leise haßerfüllt zu fluchen. Nie zuvor in seinem Leben hatte er aus einer Entfernung von hundertdreißig Meter ein unbewegtes Ziel verfehlt. Aber dann fing er sich wieder; es war noch immer Zeit. Er riß den Verschluß des Gewehrs auf, aus dem die leere Patronenhülse auf den Teppich fiel, griff nach dem zweiten Geschoß, legte es in die Kammer ein und verriegelte den Verschluß.
Keuchend erreichte Claude Lebel den sechsten Stock. Er glaubte, gleich müsse ihm das Herz aus der Brust springen und auf dem ganzen Treppenflur umherhüpfen. Es gab zwei Türen zu Wohnungen, die auf die Straßenfront hinausgingen. Er sah unschlüssig von der einen zur anderen, und der CRS-Mann trat mit dem entsicherten Schnellfeuerkarabiner im Arm hinter ihn. Während Lebel noch zögerte, drang aus der Wohnung zur Rechten ein leises, aber unverkennbares Geräusch, das wie» Fff opp! «klang. Lebel deutete mit dem Zeigefinger auf das Türschloß.
«Aufschießen!«befahl er und trat zur Seite. Der CRS-Mann verlagerte sein Gewicht auf beide Beine, senkte das Kinn und gab einen Feuerstoß ab. Holzsplitter, Metall und plattgeschlagene Patronenhülsen flogen in alle Richtungen. Die Tür bog sich und sprang mit einem Ruck auf und schwang nach innen. Valremy drang als erster in die Wohnung ein, Lebel folgte dicht hinter ihm.
Die kurzen grauen Haarbüschel konnte Valremy wiedererkennen, aber das war auch alles. Dieser Mann hier hatte zwei Beine, trug keinen Wachmantel mehr, und die Arme, die das Gewehr hielten, waren die eines noch jungen, kraftvollen Mannes. Der Killer ließ ihm keine Chance; er erhob sich halb vom Stuhl hinter dem Tisch und feuerte mit einer geschmeidigen Drehung zur Tür hin in leichtgebückter Haltung aus der Hüfte.
Der Schuß fiel lautlos. Der Widerhall der eigenen Salve dröhnte Valremy noch immer in den Ohren. Das Geschoß zerschmetterte ihm das Brustbein und explodierte. Er fühlte, wie es ihn von innen heraus zerriß und zerfetzte, und spürte das wütende Zustechen von schneidendem Schmerz; und dann spürte er es nicht mehr. Das Licht schwand, als sei es mitten im Sommer Winter geworden. Der Teppich kam auf ihn zu und schlug gegen sein Gesicht — oder war er es, der mit dem Gesicht auf den Teppich schlug? Fühllosigkeit schwemmte über Oberschenkel und Leib nach oben und erreichte Brust und Hals. Das letzte, was er wahrnahm, war ein salziger Geschmack im Mund, wie er ihn vom Baden im Meer bei Kermadec her kannte, und eine einbeinige Seemöwe, die auf einem Pfahl hockte. Dann wurde alles dunkel. Claude Lebel hob den Blick von Valremys Leiche und sah dem anderen Mann in die Augen. Sein Herz machte ihm jetzt keinerlei Schwierigkeiten; es schien gar nicht mehr pumpen zu wollen.