«Schakal«, sagte er. Der andere Mann sagte nur:»Lebel. «Er machte sich an dem Gewehr zu schaffen, dessen Riegel er zurückriß. Lebel sah Metall aufblinken, als die leere Patronenhülse zu Boden fiel. Der Mann griff blitzschnell nach etwas auf der Tischplatte und steckte es in die Gewehrkammer. Noch immer waren seine grauen Augen unverwandt auf Lebel gerichtet.
Er will mich kaltmachen, dachte Lebel, und ein merkwürdiges Gefühl der Unwirklichkeit überkam ihn. Gleich wird er schießen. Er wird mich umbringen.
Er zwang sich, zu Boden zu blicken. Der Junge vom CRS war seitlich hingeschlagen, und der seinen Händen entglittene Karabiner lag Lebel vor den Füßen. Ohne zu überlegen, ließ er sich auf die Knie fallen, packte die MAT 49 und riß sie mit einer Hand hoch, während er mit der anderen nach dem Abzug tastete. Er hörte, wie der Schakal den Verschluß seines Gewehrs zuschnappen ließ, und hatte selbst schon den Abzug gefunden. Er zog ihn durch.
Das ohrenbetäubende Krachen der explodierenden Munition, das den kleinen Raum widerhallend erfüllte, war bis hinaus auf den Bahnhofsvorplatz zu hören. Den noch am gleichen Tag erfolgten Anfragen der Presse wurde entgegnet, es müsse sich um ein Motorrad mit schadhaftem Auspuff gehandelt haben, das irgendein Kerl nur wenige Straßen vom Schauplatz der Gedenkfeier entfernt angelassen habe. Eine halbe Magazinladung von 9-mm-Geschossen zerfetzte dem Schakal die Brust, warf ihn empor, drehte ihn in der Luft einmal um sich selbst und schmetterte seinen durchsiebten Körper in die gegenüberliegende Zimmerecke, wo er als blutgetränktes, unordentliches Kleiderbündel nahe dem Sofa liegenblieb. Im Fallen hatte er noch die Stehlampe umgerissen. Unten auf dem Bahnhofsvorplatz begann die Kapelle» Mon regiment est ma patrie «zu spielen.
Am gleichen Tag erhielt Superintendent Thomas um 18 Uhr einen Anruf aus Paris. Als er aufgelegt hatte, rief er den dienstältesten Inspektor seines engeren Mitarbeiterstabs zu sich.»Sie haben ihn erwischt«, sagte er.»In Paris. Das hat sich also erledigt. Aber es wäre gut, wenn Sie rasch in seine Wohnung gingen und die dort verbliebenen Sachen nochmals sichteten.«
Es war gegen 20 Uhr. Der Inspektor schickte sich gerade an, Calthrops persönliche Habe einer letzten Prüfung zu unterziehen, als er jemanden durch die offene Wohnungstür kommen hörte.
Ein großer, breitschultriger Mann war eingetreten und betrachtete ihn mit finsterer Miene.»Was wollen Sie?«fragte der Inspektor.
«Genau das darf ich Sie wohl fragen. Was, zum Teufel, haben Sie hier zu suchen?«
«Jetzt reicht's aber«, sagte der Inspektor.»Wie heißen Sie?«
«Calthrop«, sagte der Mann.»Charles Calthrop. Und das hier ist meine Wohnung. Also, was tun Sie hier? 'raus mit der Sprache! «
Der Inspektor wünschte, er hätte eine Waffe bei sich.
«Schon gut«, sagte er leise, ohne den Mann aus den Augen zu lassen.»Am besten, Sie kommen gleich mit mir auf einen Plausch zu Scotland Yard.«
«Mit Vergnügen«, sagte Calthrop.»Sie sind mir eine Erklärung schuldig.«
Tatsächlich war es dann aber Calthrop, der Erklärungen abgab. Man ließ ihn erst nach vierundzwanzig Stunden frei, nachdem nicht weniger als insgesamt drei voneinander unabhängige Bestätigungen aus Frankreich gekommen waren, daß der Schakal tot sei, und die Inhaber fünf abgelegener schottischer Gasthöfe bezeugt hatten, daß Charles Calthrop in den letzten drei Wochen seiner Anglerleidenschaft gefrönt und sich in dieser Zeit als Gast bei ihnen eingemietet hatte.»Wenn der Schakal nicht Calthrop war«, bemerkte Thomas zu seinem Inspektor, nachdem er Calthrop schließlich hatte gehen lassen,»wer, zum Teufel, war er dann?«
«Es kommt überhaupt nicht in Frage«, erklärte der Commissioner der städtischen Polizeibehörde in London am nächsten Tag gegenüber Assistent Commissioner Dixon und Superintendent Thomas mit allem Nachdruck,»daß die Regierung Ihrer Majestät jemals einräumt, dieses Schakal-Subjekt könne die britische Staatsangehörigkeit gehabt haben. Soweit sich das von hier aus überblicken läßt, wurde in der Tat zeitweilig ein gewisser Engländer verdächtigt. Das hat sich aber jetzt aufgeklärt. Uns ist auch bekannt, daß dieser Bursche, dieser Schakal, sich auf seiner — ähem — Mission in Frankreich vorübergehend als
Engländer ausgegeben und einen ihm aufgrund falscher Angaben ausgestellten Paß besessen hat. Aber er gab sich auch als Däne, als Amerikaner und als Franzose aus, und zwar mit Hilfe zweier gestohlener Pässe und gefälschter französischer Ausweispapiere. Was uns betrifft, so ist festzuhalten, daß es unsere Ermittlungen waren, die es den Franzosen möglich machten, den unter dem falschen Namen Duggan in Frankreich umherreisenden Schakal in diesem Nest da… in… äh… Gap aufzuspüren. Das wäre alles, meine Herren. Der Fall ist damit abgeschlossen.«
Am Tag darauf wurde auf dem Friedhof eines Pariser Vororts in einem nicht näher bezeichneten Grab die Leiche eines Mannes beerdigt. Dem Totenschein zufolge handelte es sich um einen namenlosen ausländischen Touristen unbekannter Nationalität, der am Sonntag, dem 25. August 1963, auf einer Schnellstraße außerhalb der Stadt von einem Automobil, dessen Fahrer flüchtig war, überfahren und getötet wurde. Bei dem Begräbnis waren ein Priester, ein Polizeibeamter, ein Angestellter der Friedhofsverwaltung, zwei Totengräber sowie ein weiterer Mann zugegen, der es ablehnte, seinen Namen zu nennen. Mit Ausnahme des letzteren zeigte keiner der Anwesenden auch nur eine Spur von Teilnahme, als der schlichte Fichtensarg in das ausgehobene Grab gesenkt wurde. Als alles vorüber war, drehte sich der Mann um und ging, eine einsame kleine Gestalt, die lange Friedhofsallee zum Ausgang zurück, nach Hause zu seiner Frau und seinen Kindern.
Der Weg des Schakals war zu Ende.
ENDE