Rodin nickte nachdrücklich.»Ich hatte auch nicht angenommen, daß sich noch irgendwelche Zweifel ergeben würden. Noch bevor ich mit der Zusammenstellung der Dossiers fertig war, schien mir das Ergebnis der Wahl schon eindeutig festzustehen.«»Sind Sie sich, was diesen Engländer betrifft, auch ganz sicher?«fragte Casson.»Hat er diese Aufträge tatsächlich ausgeführt?«
«Ich war selbst überrascht«, sagte Rodin,»und habe deswegen zusätzliche Zeit auf ihn verwendet. Falls Sie absolute Beweise wollen — die gibt es nicht. Und wenn es sie gäbe, wäre das ein schlechtes Zeichen. Es würde bedeuten, daß er überall als unerwünschter Ausländer gelten müßte. Tatsächlich aber liegt nichts gegen ihn vor, was man ihm nachweisen könnte.
Es gibt nur Gerüchte; im übrigen ist seine Weste weiß wie Schnee. Selbst wenn die Briten ihn auf der Liste haben sollten, können sie hinter seinen Namen nur ein Fragezeichen setzen. Das genügt aber nicht, um ihn in die Akten der Interpol aufzunehmen. Und die Wahrscheinlichkeit, daß die englischen Behörden den SDECE auf einen solchen Mann aufmerksam machen würden, wäre selbst dann, wenn eine offizielle Anfrage vorläge, nur gering. Sie wissen, wie sehr die beiden Geheimdienste einander hassen. Selbst Bidaults Londoner Aufenthalt im letzten Januar erwähnten die Briten mit keiner Silbe. Nein, für einen Auftrag dieser Art bringt der Engländer alle Voraussetzungen und Vorzüge mit — mit Ausnahme eines einzigen.«»Und der wäre?«fragte Montclair rasch.»Ganz einfach. Er wird nicht billig sein. Ein Mann wie der kann viel Geld verlangen. Wie steht es um die Finanzen, Rene?«Montclair hob die Schultern.»Nicht allzu gut. Die Ausgaben sind ein bißchen zurückgegangen. Seit der Argoud-Affäre haben sich die CNR-Helden in billige Hotels verkrochen. Sie scheinen an Fünf-Sterne-Hotels und Fernsehinterviews keinen Gefallen mehr zu finden. Andererseits sind unsere Einnahmen äußerst spärlich geworden. Wie Sie bereits sagten, müssen wir etwas unternehmen, wenn wir nicht schon sehr bald wegen mangelnder Mittel am Ende sein wollen.«
Rodin nickte grimmig.»Das dachte ich mir. Wir müssen von irgendwoher Geld auftreiben. Andererseits wäre es sinnlos, wenn wir uns auf eine solche Aktion einließen, bevor wir wissen, wieviel wir dazu brauchen werden…«
«Woraus folgt«, schaltete sich Casson ein,»daß der nächste Schritt sein wird, den Kontakt mit dem Engländer aufzunehmen und ihn zu fragen, ob er den Job übernehmen wird und zu welchem Preis.«
«Allerdings. Sind wir uns darin einig?«Rodin sah nacheinander beide Männer an. Sie nickten. Rodin warf einen Blick auf seine Uhr.»Es ist kurz nach eins. Ich habe einen Agenten in London, dem ich jetzt telephonisch Weisung geben werde, den Mann zu kontaktieren und ihn zu fragen, ob er herkommen kann. Wenn er sich bereit erklärt, die Abendmaschine nach Wien zu nehmen, könnten wir nach dem Essen hier mit ihm zusammentreffen. In jedem Fall werden wir Bescheid wissen, sobald mein Agent zurückruft. Ich habe mir erlaubt, für Sie beide in diesem Stockwerk benachbarte Zimmer reservieren zu lassen. Ich halte es für sicherer, von Viktor beschützt zusammenzubleiben, als ohne Schutz getrennt zu wohnen. Nur für den Fall der Fälle, versteht sich.«
«Sie waren Ihrer Sache ziemlich sicher, stimmt's?«fragte Casson ein wenig pikiert darüber, daß seine Meinung sich als vorhersehbar erwiesen hatte.
Rodin zuckte mit den Achseln.»Es war langwierig und um-ständlich genug, diese Information zu beschaffen. Je weniger Zeit von jetzt ab verschwendet wird, um so besser. Wenn wir die Dinge vorantreiben wollen, sollten wir auch Dampf dahinter machen.«
Er stand auf, und die anderen beiden erhoben sich ebenfalls. Rodin rief Viktor und befahl ihm, in die Halle hinunterzugehen und sich die Schlüssel für die Zimmer fünfundsechszig und Sechsundsechzig geben zu lassen. Während er auf Viktors Rückkehr wartete, sagte er zu Montclair und Casson:
«Ich muß vom Hauptpostamt aus telephonieren und nehme Viktor mit. Ich darf Sie bitten, gemeinsam in einem Zimmer zu verbleiben, solange ich fort bin, und die Tür abzuschließen. Öffnen Sie nur auf mein Zeichen hin; ich werde dreimal pochen, eine Pause machen und dann noch zweimal pochen.«
Das Zeichen entsprach dem vertrauten Kampfruf» Algerie Fran9aise«, nach dessen Rhythmus Pariser Autofahrer in den vergangenen Jahren auf die Hupe gedrückt hatten, um ihrer Mißbilligung der gaullistischen Politik Ausdruck zu geben.»Übrigens«, fuhr Rodin fort,»hat einer von Ihnen eine Pistole?«
Beide Männer schüttelten den Kopf. Rodin ging an den Schreibtisch und holte eine MAB 9 mm hervor, die er zum persönlichen Gebrauch mit sich zu führen pflegte. Er überprüfte das Magazin, ließ es zurückschnappen und lud durch. Er reichte sie Montclair.
«Kennen Sie sich mit dem Ding aus?«fragte er.
Montclair nickte.»Das will ich meinen«, sagte er und nahm die Pistole an sich.
Viktor erschien mit den Schlüsseln und eskortierte die beiden Männer auf Montclairs Zimmer. Als er zurückkehrte, knöpfte sich Rodin gerade den Mantel zu.
«Kommen Sie, Corporal«, sagte er.»Gehen wir.«
Als sich an jenem Abend die Dämmerung zu nächtlicher Dunkelheit verfärbte, näherte sich die aus London kommende BEA-Vanguard dem Wiener Flughafen Schwechat. Der blonde Engländer im Heck des Flugzeugs lehnte sich in seinem Fenstersitz zurück und blickte auf die unter der rasch an Höhe verlierenden Maschine hinweghuschenden Einflugfeuer hinaus. Es bereitete ihm immer wieder Vergnügen, sie näher und näher kommen zu sehen, bis es fast gewiß erschien, daß das Flugzeug auf dem Gras des Vorfeldes aufsetzen würde. Im allerletzten Augenblick wurden der nur undeutlich erkennbare, schwach beleuchtete Grasboden, die numerierten Tafeln zu beiden Seiten der Piste und schließlich die Platzbefeuerung selbst weggewischt, um von dem ölig geschwärzten Beton der Landebahn abgelöst zu werden. Dann erst setzten die Räder auf. Die Exaktheit des Landemanövers befriedigte ihn. Er schätzte Präzision.
Nervös blickte ihn der neben ihm sitzende junge Franzose aus dem französischen Reisebüro am Piccadilly Square von der Seite her an. Seit dem Telephonanruf, der in der Mittagspause gekommen war, befand er sich in einem Zustand gelinder Erregung. Vor nahezu einem Jahr hatte er, auf Urlaub in Paris, der OAS seine Dienste angetragen, aber lediglich den Bescheid erhalten, an seinem Schreibtisch in London zu verbleiben. Briefliche oder telephonische Weisungen, die ihn unter seinem korrekten Namen erreichten, jedoch mit den Worten» Lieber Pierre «begannen, seien unverzüglich genauestens auszuführen. Bis zum heutigen Tag, dem 15. Juni, war nichts geschehen.
Die Dame in der Telephonvermittlung des französischen Reisebüros hatte ihm gesagt, sie habe» Vienne «für ihn in der Leitung, und dann, um einer Verwechslung mit der gleichnamigen französischen Stadt vorzubeugen, hinzugefügt: »Vienne en Autriche.«Verwundert hatte er den Anruf entgegengenommen, um eine Stimme zu hören, die ihn» Mein lieber Pierre «nannte. Es hatte ein paar Sekunden gedauert, ehe er sich seines eigenen Codenamens erinnerte. Nach der Mittagspause hatte er Kopfschmerzen vorgeschützt, die angegebene Wohnung in einer kleinen Nebenstraße der South Audley Street aufgesucht und dem Engländer, der ihm die Tür öffnete, die Botschaft überbracht. Über das Ansinnen, innerhalb von drei Stunden nach Wien zu fliegen, war diesem keinerlei Erstaunen anzumerken gewesen. Er hatte gelassen einen leichten Koffer gepackt, und die beiden waren im Taxi zum Flugplatz Heathrow hinausgefahren. Wortlos hatte der Engländer ein Bündel Banknoten gezückt, um zwei Retourtickets in bar zu zahlen, nachdem der Franzose hatte eingestehen müssen, daß er nicht daran gedacht habe, Bargeld mitzunehmen, und nur Paß und Scheckbuch bei sich trüge.