Auf der baumbeschatteten Avenue beschleunigte der Konvoi seine Geschwindigkeit und schoß auf die sonnenbeschienene Place Clemenceau hinaus, die er schnurstracks in Richtung auf den Pont Alexandre III überquerte. Im Windschatten der Regierungswagen fahrend, war es für den jungen Mann auf dem Motorroller nicht allzu schwer, sich an den Konvoi anzuhängen.
Hinter der Brücke folgte Marroux den motorisierten Polizisten in die Avenue du Marechal Gallieni und von dort in den breiten Boulevard des Invalides. Der Fahrer des Motorrollers wußte nun, was er hatte wissen wollen: die Route, auf welcher der General Paris verlassen würde. An der Ecke der Rue de Verenne nahm er das Gas weg und steuerte auf ein Cafe zu. Mit langen Schritten durchquerte er den Raum, in dessen hinterem Teil sich das Telephon befand, holte eine metallene Marke aus der Tasche, steckte sie in den Schlitz des Apparats und wählte eine Ortsnummer.
Im Pariser Vorort Meudon hatte Oberstleutnant Jean-Marie Bastien-Thiry auf den Anruf gewartet. Er war fünfunddreißig Jahre alt, im Luftfahrtministerium tätig, verheiratet und Vater dreier Kinder. Hinter der konventionellen Fassade seines Berufs-und Familienlebens nährte er eine tiefe Bitterkeit gegen Charles de Gaulle, der seiner Überzeugung nach Frankreich und die Männer, die ihm 1958 die Rückkehr an die Macht ermöglichten, durch die Preisgabe Algeriens an die algerischen Nationalisten schmählich verraten hatte.
Er persönlich hatte durch die Aufgabe Algeriens nichts verloren, und es waren keine persönlichen Beweggründe, von denen er sich leiten ließ. Er fühlte sich als Patriot und war überzeugt, seinem Land einen Dienst zu erweisen, indem er den Mann tötete, der es, wie er meinte, verraten hatte. Es gab Tausende und Abertausende, die dachten wie er, aber nur wenige von ihnen zählten zu den Mitgliedern der geheimen Armeeorganisation, die sich verschworen hatten, de Gaulle zu beseitigen und seine Regierung zu stürzen. Bastien-Thiry war einer dieser Männer.
Er nippte an einem Glas Bier, als der Anruf kam. Der Kellner reichte ihm das Telephon herrüber und ging dann zum anderen Ende der Theke, um den Fernseher leiser zu stellen. Bastien-Thiry lauschte ein paar Sekunden, flüsterte:»Sehr gut, danke«, in die Muschel und legte den Hörer auf.
Sein Bier hatte er schon bezahlt. Er verließ die Bar, schlenderte auf die Straße hinaus, schlug die zusammengefaltete Zeitung, die er bis dahin unter dem Arm getragen hatte, auf und blätterte demonstrativ zweimal um.
Auf der anderen Seite der Straße trat eine junge Frau hinter der zugezogenen Spitzengardine vom Fenster ihrer im ersten Stock gelegenen Wohnung zurück und sagte, indem sie sich den zwölf Männern zuwandte, die in dem Zimmer herumsaßen:»Er nimmt Route Nummer zwei.«
Fünf von den zwölf Männern waren noch ganz junge Burschen, Amateure im Handwerk des Tötens; sie hörten auf, ihre Finger zu kneten, und fuhren hoch. Die sieben anderen waren älter und weniger nervös. Der Ranghöchste unter ihnen, Alain Bougrenet de la Tocnaye, fünfunddreißig, verheiratet und Vater von zwei Kindern, ein aus einer Familie adliger Großgrundbesitzer stammender Mann der extremen Rechten, fungierte bei dem von Bastien-Thiry geleiteten Anschlag als verantwortlicher Unterführer.
Der gefährlichste war der neununddreißigjährige Georges Watin, ein breitschultriger OAS-Fanatiker mit eckiger Kinnlade. Ehedem landwirtschaftlicher Berater in Algerien, war er nach zwei Jahren als einer der schießwütigsten Killer der OAS wieder aufgetaucht. Einer alten Verwundung wegen wurde er» Das Hinkebein «genannt.
Als die junge Frau die Nachricht bekanntgab, stürmten die zwölf Männer über die Hintertreppe und den Hof in eine Seitenstraße, auf der sechs teils gestohlene, teils gemietete Wagen geparkt waren. Es war 19 Uhr 55.
Bastien-Thiry hatte Tage gebraucht, um den geeigneten Tatort für den Mordanschlag zu bestimmen, Geschwindigkeit, Entfernung und Abstand der heranbrausenden Wagen sowie die Feuerkraft zu errechnen, die erforderlich war, um sie zu stoppen. Schließlich hatte er sich für die Avenue de la Liberation entschieden, eine schnurgerade, lange Ausfallstraße, die zur großen Kreuzung von Petit-Clamart führt.
Der Plan sah vor, daß die mit Karabinern ausgerüsteten Scharfschützen der ersten Gruppe etwa zweihundert Meter vor der Kreuzung das Feuer auf den Wagen des Präsidenten eröffnen sollten. Sie würden hinter einem am Straßenrand geparkten Lieferwagen in Deckung liegen und schon aus einem extrem flachen Schußwinkel heraus auf die herannahenden Fahrzeuge zu feuern beginnen, um ein Maximum an Treffern zu gewährleisten. Nach Bastien-Thirys Berechnung mußte der erste Citroen zu dem Zeitpunkt, da er mit dem geparkten Lieferwagen auf gleicher Höhe war, bereits von hundertfünfzig Geschossen durchlöchert sein. Sobald das Automobil des Präsidenten gestoppt war, würde der zweite OAS-Wagen, aus einer Seitenstraße kommend, heranpreschen und den Begleitwagen der Polizei aus kürzester Distanz zusammenschießen. Beide Gruppen würden nur wenige Sekunden benötigen, um den Insassen des Präsidentenwagens den Rest zu geben, und dann zu den drei in einer anderen Seitenstraße zur Flucht bereitgestellten Automobilen rennen. Bastien-Thiry, der dreizehnte Mann der Gruppe, würde seinerseits auf Vorposten als Späher fungieren.
Um 20 Uhr 05 hatten die Trupps Stellung bezogen. Die zusammengefaltete Zeitung unter dem Arm, stand Bastien-Thiry an einer vom Hinterhalt etwa hundert Meter in Richtung Paris entfernten Bushaltestelle. Durch Winken mit der Zeitung würde er Serge Bernier, der als Führer des ersten Kommandos hinter dem geparkten Lieferwagen stand, das Zeichen geben, das dann von diesem an die ihm zu Füßen im Gras liegenden Scharfschützen weitergegeben wurde.
Bougrenet de la Tocnaye würde, das» Hinkebein «Watin mit der Maschinenpistole im Anschlag neben sich, am Steuer des Wagens sitzen, der die Sicherheitspolizei auszuschalten hatte.
Als am Straßenrand in Petit-Clamart die Schußwaffen entsichert wurden, hatte General de Gaulles Konvoi den dichteren Straßenverkehr von Paris hinter sich gelassen und die weniger befahrenen Avenuen der Vorstädte erreicht. Hier beschleunigte er seine Geschwindigkeit auf hundert Stundenkilometer. Francis Marroux, der die gereizte Unruhe des hinter ihm sitzenden Generals spürte, warf einen Blick auf seine Armbanduhr und erhöhte, sobald sich der Straßenverkehr weiter gelichtet hatte, das Tempo abermals. Die beiden motorisierten Vorreiter fielen zurück, um sich an den Schluß des Konvois zu setzen. De Gaulle schätzte derart ostentative Ankündigungen ohnehin nicht und verzichtete auf sie, wann immer er konnte. In dieser Formation erreichte der Konvoi die Avenue de la Division Leclerc in Petit-Clamart. Es war 20 Uhr 17.
Anderthalb Kilometer voraus sollte Bastien-Thiry die Folgen seines Irrtums, der ihm übrigens, bis ihn die Polizei Monate später in der Todeszelle darüber aufklärte, verborgen blieb, in wenigen Minuten zu spüren bekommen. Beim Aufstellen des Zeitplans für den Anschlag hatte er anhand eines Kalenders ermittelt, daß am 22. August die Dämmerung um 20 Uhr 35 hereinbrechen würde — immer noch spät genug selbst dann, wenn de Gaulle sich seinerseits verspäten sollte, was in der Tat der Fall war. Aber der Kalender, den der Luftwaffen-Oberstleutnant zu Rate gezogen hatte, bezog sich auf das Jahr 1961. Am 22. August 1962 brach die Dämmerung um 20 Uhr 10 ein. Dieser Unterschied von fünfundzwanzig Minuten sollte für die Geschichte Frankreichs entscheidend sein. Um 20 Uhr 18 machte Bastien-Thiry den mit einer Geschwindigkeit von über hundert Stundenkilometer auf der Avenue de la Liberation herausbrausenden Konvoi aus. Aufgeregt winkte er mit seiner Zeitung.
Hundert Meter weiter spähte Bernier von der anderen Straßenseite aus wütend zu der in der sinkenden Dämmerung nur undeutlich erkennbaren Gestalt an der Bushaltestelle hinüber.