Oberst Rolland nahm den ledernen Aktenordner zur Hand, der neben der abgesägten 10,5-cm-Granatenhülse lag, die ihm als Aschenbecher diente und schon jetzt von» Disque Bleue«-Stummeln halb gefüllt war, und schlug ihn auf. Sein Blick glitt rasch über die Zeilen des R 3 / Rom-Berichts vom 30. Juni, bis er den Absatz fand, den er gesucht hatte.
Täglich, so hieß es da, verließ einer der Wachtposten das Hotel und ging aufs Hauptpostamt. Dort war ein offenes Poste Restante-Fach auf den Namen eines gewissen Poitiers reserviert. Die OAS hatte, offenbar aus Furcht, es könnte ausgeraubt werden, kein mit einem Schlüssel versehenes Postfach genommen. Die gesamte für die Männer an der Spitze der OAS bestimmte Post war an Poitiers adressiert und wurde vom diensttuenden Beamten am Poste Besfante-Schalter verwahrt. Ein Versuch, den Mann durch Bestechung dazu zu bewegen, die Post einem Agenten von R 3 auszuhändigen, schlug fehl. Der Beamte hatte seinen Vorgesetzten das ihm gestellte Ansinnen gemeldet und war durch einen dienstälteren Kollegen ersetzt worden. Möglich, daß die Post für Poitiers jetzt von der italienischen Sicherheitspolizei kontrolliert wurde, aber R 3 war angewiesen, sich nicht mit der Bitte um Zusammenarbeit an die Italiener zu wenden. Der Versuch, den Beamten zu bestechen, war zwar fehlgeschlagen, aber man hatte geglaubt, die Initiative ergreifen zu müssen. Jeden Tag wurde die über Nacht im Postamt eingetroffene Post dem Leibwächter ausgehändigt, der als ein Viktor Kowalsky, ehemaliger Korporal der Fremdenlegion und Angehöriger der von Rodin in Indochina geführten Kompanie, identifiziert war. Kowalsky mußte offenbar über entsprechende falsche Papiere, die ihn gegenüber dem Postamt als Poitiers.; auswiesen, oder über eine Vollmacht verfügen, die vom Postamt akzeptiert wurde. Wenn Kowalsky Briefe aufzugeben hatte, pflegte er neben dem Briefkasten in der Haupthalle des Gebäudes bis fünf Minuten vor der Entleerung auszuharren, die Briefe durch den Schlitz zu werfen und dann wiederum abzuwarten, bis der Kasten geleert und sein Inhalt zum Sortieren in die hinteren Räume des Gebäudes gebracht wurde. Jedweder Versuch, in den Prozeß der Absendung oder des Empfangs von OAS-Post einzugreifen, würde notwendig mit einem Grad an Gewalttätigkeit verbunden sein, wie er von Paris ausdrücklich untersagt worden war.
Zuweilen führte Kowalsky von der für Überseegespräche vorgesehenen Zelle aus Ferngespräche, aber auch hier waren alle Versuche, die angerufene Nummer in Erfahrung zu bringen oder das Gespräch abzuhören, fehlgeschlagen. Ende der Mitteilung.
Oberst Rolland klappte den Lederdeckel des Aktenordners zu und nahm sich auch den zweiten der beiden an diesem Morgen eingetroffenen Berichte nochmals vor. Es war ein Polizeibericht der Police Judiciaire in Metz, aus dem hervorging, daß bei der routinemäßig durchgeführten Razzia einer Bar ein Mann vernommen worden sei, der dabei zwei Polizisten angeschossen habe. Auf der Polizeiwache sei besagter Mann aufgrund seiner Fingerabdrücke als der fahnenflüchtige Fremdenlegionär Sandor Kovacs, ein 1956 aus Budapest geflohener gebürtiger Ungar, identifiziert worden. Kovacs, das besagte eine von der PJ Paris am Schluß des Berichts aus Metz angefügte Notiz, sei ein berüchtigter OAS-Bandit, der wegen seiner Mittäterschaft an einer Serie terroristischer Morde an staatsloyalen Beamten der algerischen Distrikte Bone und Constantine seit 1961 gesucht werde. Zu jener Zeit habe er vorwiegend gemeinsam mit einem anderen bis heute nicht gefaßten OAS-Killer opiert, einem ehemaligen Korporal der Fremdenlegion namens Viktor Kowalsky. Ende der Mitteilung.
Rolland sann nochmals über die zwischen den beiden Männern bestehende Verbindung nach, wie er dies schon in der vergangenen Stunde getan hatte. Schließlich drückte er einen Knopf des Sprechgeräts und antwortete auf das aus dem Apparat dringende »Oui, mon colonel?«: »Bringen Sie mir die Personalakte Kowalsky, Viktor, sofort. «Innerhalb von zehn Minuten lag ihm die aus dem Archiv herbeigeholte Akte Kowalsky vor, und er verbrachte eine weitere Stunde mit deren Lektüre. Mehrmals kehrte sein Blick zu einem ganz bestimmten Satz zurück. Während andere, in weniger aufreibenden Berufen beschäftigte Pariser unten auf den Trottoirs den Bistros und Cafeterias entgegenstrebten, in denen sie ihr Mittagsmahl einzunehmen pflegten, beraumte Oberst Rolland eine dienstliche Besprechung an, bei der außer ihm selbst sein persönlicher Sekretär, ein Schriftsachverständiger der drei Stockwerke tiefer untergebrachten Dokumentationsabteilung sowie zwei Gorillas seiner privaten Prätorianergarde anwesend waren.
«Meine Herren«, sagte er,»mit unfreiwilliger, aber unerläßlicher Unterstützung eines hier nicht Anwesenden werden wir jetzt einen Brief entwerfen, schreiben und abschicken.«
FÜNFTES KAPITEL
Kurz vor 13 Uhr lief der Brabant-Expreß in die Gare du Nord ein. Der Schakal nahm sich ein Taxi, das ihn zu einem kleinen, jedoch ungemein behaglichen Hotel in der von der Place de la Madeleine abgehenden rue de Suresne brachte. Es war kein Hotel in der Preislage des D'Angleterre in Kopenhagen oder des Brüsseler Amigo, aber der Schakal hatte seine Gründe, die ihn für die Dauer dieses Aufenthalts in Paris ein bescheideneres und weniger bekanntes Haus vorziehen ließen. Da war einmal der Umstand, daß er längere Zeit bleiben würde, und zum anderen die weitaus größere Wahrscheinlichkeit, hier in Paris jemandem, der ihn in London unter seinem richtigen Namen flüchtig gekannt haben mochte, zufällig wiederzubegegnen als in Kopenhagen oder Brüssel. Draußen auf der Straße würden die dunklen Gläser seiner Brille, die im strahlenden Sonnenlicht der Boulevards zu tragen ganz normal war, seine Identität hinreichend schützen. Die mögliche Gefahr bestand darin, auf dem Korridor oder in der Halle eines Hotels gesehen zu werden. Was er in dieser Phase um jeden Preis vermeiden wollte, das war, von irgend jemandem mit einem fröhlichen» Na so was — Sie hier wiederzusehen!«angehalten und womöglich in Hörweite eines Empfangschefs, der ihn als Mr. Duggan kannte, mit seinem richtigen Namen angesprochen zu werden.Nicht daß sein Aufenthalt in Paris in irgendeiner Weise geeignet;] war, Aufmerksamkeit zu erregen. Er verbrachte seine Tage mit der 1 beflissenen Geschäftigkeit eines Touristen. Am ersten Tag kaufte: er sich einen Stadtplan von Paris, auf dem er anhand eines mitgebrachten kleinen Notizbuchs die Plätze und Bauwerke, die er unbedingt sehen wollte, ankreuzte. Diese besuchte und besichtigte er ' sodann mit bemerkenswerter Ausdauer, wobei er der architektonischen Schönheit sein besonderes Augenmerk widmete oder J doch, wo von solcher nicht die Rede sein konnte, ihrer historischen Bedeutung ständig eingedenk war.
Er verbrachte drei Tage damit, in der unmittelbaren Umgebung des Arc de Triomphe umherzustreifen oder das Bauwerk und die Dächer der die Place de l'Etoile säumenden Gebäude von der Terrasse des Cafe de l'Elysee aus in Augenschein zu nehmen. Wer ihm, in jenen Tagen nachspioniert hätte (was niemand tat), wäre überrascht gewesen, daß sogar die Architektur des verdienstvollen Monsieur Haussmann einen so glühenden Bewunderer gefunden haben sollte. Gewiß hätte kein noch so scharfer Beobachter auch nur ahnen können, daß der gepflegt aussehende, elegant gekleidete englische Tourist, der in seinem Kaffee rührte und stundenlang unverwandt zu den Dächern der umstehenden Gebäude hinaufstarrte, insgeheim Schußwinkel, Entfernungen von den oberen Stockwerken bis zur Ewigen Flamme, die unter dem Triumphbogen flackerte, und die Chancen, über Feuerleitern zu entkommen und unerkannt in der flanierenden Menschenmenge unterzutauchen, berechnete.