Nach drei Tagen verließ er die Gegend des Etoile und besuchte die Gedenkstätte für die Märtyrer der französischen Resistance auf dem Montvalerien. Hier traf er mit einem Blumenstrauß ein; und ein Wärter, den diese Geste gegenüber seinen ehemaligen ResistanceKameraden von Seiten eines Engländers rührte, veranstaltete ihm zu Ehren eine ausgedehnte Einzelführung durch die Gedenkstätte. Er dürfte kaum bemerkt haben, daß der Blick des Besuchers immer wieder von deren Portal fort- und zu den hohen Gefängnismauern hinüberwanderte, die jede Möglichkeit, von den Dächern der umgebenden Gebäude aus direkte Einsicht in den Hof zu nehmen, verwehrten. Nach zwei Stunden verabschiedete er sich mit einem höflichen» Thank you «sowie einem großzügigen, aber nicht exzessiven Trinkgeld. Er suchte auch die Place des Invalides auf, die von dem an ihrem südlichen Ende gelegenen Invalidendom, der Herberge der Grabstätte Napoleons und dem Hort des Ruhms der französischen Armee, beherrscht wird. Die von der rue Fabert gebildete Westseite des weiten Platzes interessierte ihn am meisten, und einen ganzen Vormittag lang saß er vor dem Eckcafe, das sich dort befindet, wo die rue Fabert an die kleine dreieckige Place de Santiago du Chili grenzt. Vom siebten oder achten Stockwerk des hinter ihm befindlichen Gebäudes aus — dem Eckhaus Nr. 146 der die rue Fabert in einem Winkel von neunzig Grad schneidenden rue de Grenelle — mußte ein Scharfschütze seiner Schätzung nach die Vorgärten des Hotel des Invalides, den Eingang zum inneren Hof, den größten Teil der Place des Invalides sowie zwei oder drei Straßen kontrollieren können. Ein für Nachhuten zu hinhaltendem letztem Widerstand, nicht aber ein für Attentate geeigneter Ort. Zum einen betrug die Entfernung zwischen den oberen Fenstern und dem kiesbestreuten Weg, der vom Invaliden-Palast dorthin führte, wo die Wagen am Fuß der Treppe zwischen den beiden Tanks vorfahren würden, mehr als zweihundert Meter. Zum anderen würde die Sicht von den Fenstern des Hauses Nr. 146 aus zum Teil durch die obersten Zweige der Lindenbäume, mit denen die Place de Santiago dicht bepflanzt war und von denen die Tauben ihren grauweißen Tribut der geduldigen Statue Vaubans auf die Schultern fallen ließen, beeinträchtigt sein. Schweren Herzens zahlte er seinen Vittel Menthe und ging.
Einen Tag verbrachte er in der unmittelbaren Umgebung der Kathedrale von Notre-Dame. Hier, im Labyrinth der Ile de la Cite, gab es Hintertreppen, — höfe und schmale Gänge, aber die Entfernung vom Portal der Kathedrale zu den am Fuß der Treppe geparkten Wagen betrug nur wenige Meter, und die Dächer der Gebäude an der Place Parvis waren zu weit weg, die derjenigen am winzigen Square Charlemagne dagegen zu nah und von den Sicherheitskräften auch allzu leicht durch Beobachter zu kontrollieren.
Sein letzter Besuch galt dem Platz am südlichen Ende der rue de Rennes, den er am 28. Juli in Augenschein nahm. Ehedem Place de Rennes genannt, war der Platz, als die Gaullisten die Macht im Hotel de Ville übernahmen, in» Place du 18 Juin 1940«umbenannt worden. Der Schakal ließ seinen Blick zu dem nagelneuen Straßenschild an der Hausmauer wandern, und die Erinnerung an etwas, wovon er im vergangenen Monat gelesen hatte, stellte sich wieder ein. Der 18. Juni 1940 war der Tag gewesen, an welchem der einsame, aber stolze Mann im Londoner Exil sich an das Mikrophon begeben hatte, um den Franzosen zu verkünden, daß sie zwar eine Schlacht, nicht aber den Krieg verloren hatten.
Irgend etwas an diesem für die Pariser der Kriegsgeneration von Erinnerungen erfüllten Platz, mit der gedrungenen Masse der Gare Montparnasse an seiner Südseite, veranlaßte den Schakal stehenzubleiben. Sein Blick umfaßte die weite, asphaltierte Fläche, die jetzt vom Mahlstrom des den Boulevard du Montparnasse entlang dröhnenden und sich mit anderen Strömen aus der rue d'Odessa und der rue de Rennes vereinigenden Verkehrs gekreuzt wurde. Er sah zu den hohen, schmalen Häusern zu beiden Seiten der rue de Rennes zurück, deren Fenster ebenfalls auf den Platz hinausgingen. Langsam umschritt er ihn bis zur Südseite und schaute durch die Gitterstäbe des Geländers in den Innenhof der Gare Montparnasse. Der Hof war erfüllt vom Lärm der Taxis und Privatwagen, die tagtäglich Zehntausende von Pendlern vom Bahnhof abholten oder zu ihm brachten. Länger als ein halbes Jahrhundert hindurch einer der großen Pariser Kopfbahnhöfe, sollte er noch in jenem Winter zu einem stummen Klotz werden, der über den menschlichen und geschichtlichen Ereignissen brütete, die in seinen rauchgeschwärzten Hallen stattgefunden hatten. Der Bahnhof war zum Abbruch vorgesehen.
Der Schakal drehte dem Geländer den Rücken zu und blickte nach Norden die breite rue de Rennes hinauf. Vor ihm lag die Place du 18 Juin 1940 — der Platz, an welchem, dessen war er ganz sicher, Charles de Gaulle sich am vorgesehenen Tag ein letztes Mal einfinden würde. Was das betraf, stellten die anderen Plätze, die er in der vergangenen Woche aufgesucht hatte, bloße Möglichkeiten dar; dieser dagegen, darüber bestand keinerlei Zweifel, bedeutete eine Gewißheit. In Kürze würde es keine Gare Montparnasse mehr geben; die Arkaden, die auf so vieles hinabgeblickt hatten, würden verschwinden, und der Vorhof, der die Schmach der abziehenden Besatzer und die Befreiung von Paris erlebt hatte, würde einer Cafeteria für Büroangestellte weichen. Aber bevor das geschah, würde er, der Mann im kepi mit den beiden goldenen Sternen, noch einmal hier erscheinen. Indes betrug die Entfernung vom obersten Stockwerk des Eckhauses auf der Westseite der rue de Rennes bis zur Mitte des Vorhofs etwa hundertdreißig Meter… Der Schakal musterte die Stadtlandschaft vor ihm mit geübtem Auge. Beide Eckhäuser der rue de Rennes, die sich dort befanden, wo die Straße in den Platz einmündete, boten ganz offenkundig die günstigsten Möglichkeiten. Die nächsten drei Häuser, weiter die Straße hinauf, offerierten einen engen Schußwinkel in den Vorhof zum Bahnhof und kamen ebenfalls in Frage. Jenseits dieser Häuser wurde der Winkel zu eng. Desgleichen waren die ersten drei Gebäude am Boulevard du Montparnasse, der den Platz in gerader ost-westlicher Richtung kreuzte, geeignet. Hinter ihnen wurde der Winkel wiederum zu eng und die Entfernung zu groß. Sonstige Gebäude, die den Platz beherrschten und nicht zu weit entfernt waren, gab es nicht — es sei denn, das Bahnhofsgebäude selbst. Aber das würde abgesperrt und sein oberes Stockwerk mit den auf den Vorhof hinausgehenden Fenstern von Sicherheitsbeamten besetzt sein. Der Schakal beschloß, als erstes die drei Eckhäuser auf der westlichen Seite der rue de Rennes näher in Augenschein zu nehmen, und schlenderte zu einem auf der Ostseite gelegenen Eckcafe, dem Cafe Duchesse Anne, hinüber.
Hier nahm er, nur wenige Meter vom lärmenden Straßenverkehr entfernt, auf der Terrasse Platz, bestellte sich einen Kaffee und starrte zu den Häusern auf der anderen Straßenseite hinüber. Er blieb drei Stunden. Später lunchte er in der gegenüberliegenden Hansi Brasserie Alsacienne und studierte die Häuserfronten der Ostseite. Nach dem Essen schlenderte er auf und ab und machte sich mit den Eingängen der in Frage kommenden Apartmenthäuser vertraut. Auf diese Weise gelangte er schließlich bis zu den ersten Häusern des Boulevard du
Montparnasse, die jedoch Büros neueren Datums beherbergten und von geschäftigem Leben erfüllt waren.
Am nächsten Tag war er wieder da, schlenderte an den Häuserfronten entlang, kreuzte die Fahrbahn, um sich unter den Bäumen auf eine der Straßenbänke zu setzen und nochmals die oberen Stockwerke zu inspizieren. Fünf- oder sechsgeschossige Steinfassaden, gekrönt von einem umgitterten First, dann die steile, von Mansardenfenstern unterbrochene Schräge des mit schwarzen Ziegeln gedeckten Dachstuhls, der ehedem die Unterkünfte der Dienstboten beherbergte und jetzt ärmeren Pensionären als Wohnung diente. Die Dächer, und möglicherweise auch die Mansarden, würden an dem betreffenden Tag vermutlich überwacht werden. Es mochte sogar Beobachtungsposten auf den Dächern geben, die, den Feldstecher auf die gegenüberliegenden Fenster und Dächer gerichtet, zwischen den Kamingruppen umherkrochen. Aber die Höhe des unmittelbar unter dem Dachboden gelegenen obersten Stockwerks war ausreichend, vorausgesetzt, man konnte weit genug vom Fenster weg im Schatten sitzen, um nicht vom gegenüberliegenden Haus aus gesehen zu werden. In der schwülen Hitze jenes Sommers würde das offene Fenster nicht auffallen. Aber je weiter man den Stuhl ins Zimmer hinein rückte, desto enger wurde der Schußwinkel zum Vorhof des Bahnhofs hinunter. Aus diesem Grund schied das jeweils dritte Haus zu beiden Seiten der rue de Rennes aus. Damit blieben dem Schakal vier Häuser, unter denen er wählen konnte. Da es zu der Tageszeit, zu welcher er seiner Schätzung nach zum Schuß käme, Nachmittag sein und die Sonne bereits im Westen, aber immer noch hoch genug am Himmel stehen würde, um über das Dach des Bahnhofsgebäudes hinweg in die Fenster der auf der Ostseite der Straße gelegenen Häuser zu scheinen, entschied er sich schließlich für eines auf der Westseite. Um ganz sicher zu gehen, wartete er an jenem 29. Juli bis 16 Uhr und stellte fest, daß die Sonne die obersten Fenster der Häuser auf der Westseite nur mit einem schrägen Strahl erreichte, die Häuser auf der Ostseite dagegen noch immer voll beschien.