Am nächsten Tag bemerkte er die Concierge. Es war der dritte Tag, an dem er entweder auf einer Cafeterrasse oder auf einer Straßenbank saß, und er hatte sich eine Bank ausgesucht, die nur wenige Meter von den Eingängen der beiden Mietshäuser entfernt war, für die er sich noch immer interessierte. Ein paar Schritte hinter ihm und nur durch die Breite des Bürgersteigs, über den endlose Schwärme von Passanten dahineilten, von ihm getrennt, saß die Concierge in ihrem Hauseingang und strickte. Einmal kam ein Kellner aus einem benachbarten Cafe zu einem Plausch herübergeschlendert. Er nannte die Concierge Madame Berthe. Es war eine reizende Idylle, der Tag war warm, die Sonne strahlte und reichte, solange sie noch im Südosten und Süden über dem Bahnhofsdach auf der anderen Seite des Platzes hoch am Himmel stand, zwei bis drei Meter weit in den dunklen Hauseingang hinein. Die Concierge war eine gemütvolle großmütterliche Person, und aus der Art, wie sie »Bonjour monsieur« flötete, wenn gelegentlich jemand das Mietshaus verließ oder betrat, wie auch aus dem fröhlichen »Bonjour, Madame Berthe«, das sie jedesmal zur Antwort erhielt, schloß der auf der fünf Meter entfernten Straßenbank sitzende Beobachter, daß sie beliebt sein mußte. Eine mitleidige Natur, die für die weniger gut Weggekommenen dieser Erde ein Herz hatte: Kurz nach 14 Uhr erschien eine Katze, und innerhalb weniger Minuten kam Madame Berthe, die vorübergehend ihre Portiersloge im hinteren Teil des Parterres aufgesucht hatte, mit einer Untertasse voll Milch für das Tier, das sie» ma petite Minette «nannte, zurück.
Kurz vor 16 Uhr packte sie ihr Strickzeug zusammen, steckte es in eine der geräumigen Taschen ihrer Schürze und schlurfte auf ihren Pantoffeln die Straße hinunter zur Bäckerei.
Der Schakal stand von der Bank auf und betrat das Mietshaus. Er zog es vor, statt des Aufzugs die Treppen zu benutzen, und rannte lautlos nach oben.
Die Treppen umliefen den Liftschacht und erreichten bei jeder zum hinteren Teil des Gebäudes führenden Wendung einen kleinen Absatz. Auf jedem zweiten Stockwerk gelangte man von diesem Absatz aus durch eine Tür in der hinteren Mauer des Hauses zu einer eisernen Feuertreppe. Vor dem sechsten — dem obersten — Stock, über dem sich lediglich der
Dachboden befand, öffnete der Schakal diese Tür und blickte hinunter. Die Feuertreppe führte in einen Innenhof, auf den die Hintereingänge der anderen Häuser gingen, welche die Ecke des hinter ihm befindlichen Platzes bildeten. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hofs wurde die Masse der Gebäude von einer nach Norden verlaufenden schmalen, überdachten Passage unterbrochen.
Der Schakal schloß die Tür leise, schob den Riegel wieder vor und stieg die letzte halbe Treppe zum sechsten Stock hinauf. Von hier aus führte am Ende des Korridors eine schmalere Treppe zu den oberen Dachböden. Der Korridor hatte zwei Türen zu Wohnungen, die auf den inneren Hof hinausgingen, und zwei weitere zu Wohnungen im vorderen Teil des Hauses.
Sein Orientierungssinn sagte ihm, daß eine dieser beiden Wohnungen Fenster haben müsse, die auf die rue de Rennes oder halb seitlich zum Platz und darüber hinaus zum Vorhof des Bahnhofs hinausgingen. Das waren die Fenster, die er so lange von der Straße aus beobachtet hatte.Auf dem einen der Namenschilder neben den Klingelknöpfen der beiden vorderen Wohnungen stand» Mlle Deranger«, auf dem anderen» M et Mme Charrier«. Er lauschte einen Augenblick, aber aus keiner der Wohnungen drang ein Laut. Er untersuchte die Schlösser; beide waren in das Holz eingelassen, das überaus hart und von beträchtlicher Stärke war. Die Schloßzapfen an den Innenseiten der Türen waren vermutlich von der Art jener stählernen Riegel, wie sie die um ihre Sicherheit so besorgten Franzosen bevorzugten, und wahrscheinlich auch von der doppelt verschließbaren Sorte. Er würde Schlüssel benötigen, von denen Mme Berthe gewiß irgendwo in ihrer kleinen Loge für jede Wohnung mindestens einen verwahrte.
Ein paar Minuten später lief er die Treppe, über die er hinaufgekommen war, lautlos wieder hinunter. Alles in allem hatte er sich keine fünf Minuten lang in dem Haus aufgehalten. Die Concierge war inzwischen zurückgekehrt. Durch die Milchglasscheibe der Tür zu ihrer Loge sah er im Vorübergehen flüchtig ihre verschwommenen Umrisse. Im nächsten Augenblick hatte er sich nach rechts gewendet und mit großen Schritten den von einem Bogen überwölbten Hauseingang erreicht.
Er ging nach links ein Stück weit die rue de Rennes hinauf, kam an zwei weiteren Mietshäusern und einem Postamt vorbei und bog, der Fassade des Postamts noch immer folgend, in die erste Querstraße — die rue Littre — ein. Am Ende des Postgebäudes befand sich eine enge, überdachte Passage. Der Schakal blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden, und blickte, während die Flamme aufflackerte, verstohlen die Passage entlang. Sie führte zu dem von der Nachtschicht der Telephonvermittlung benutzten Hintereingang des Postamtes. Jenseits des tunnelartigen Durchgangs war ein sonnenbeschienener Hinterhof zu sehen. Auf der gegenüberliegenden beschatteten Seite konnte er die letzten Sprossen der Feuerleiter des Hauses erkennen, das er gerade verlassen hatte. Der Schakal machte einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und ging weiter. Er hatte seinen Fluchtweg entdeckt.
Am Ende der rue Littre wandte er sich wiederum nach links und folgte der rue de Vaugirard bis zum Boulevard du Montparnasse. Er hatte die Ecke erreicht und hielt, den Boulevard hinauf- und hinunterblickend, Ausschau nach einem freien Taxi, als ein PolizeiMotorradfahrer heranbrauste, seine Maschine aufbockte und von der Mitte der Kreuzung aus den Verkehr anzuhalten begann.
Mit schrillen Pfiffen seiner Trillerpfeife stoppte er alle aus der rue de Vaugirard wie auch die aus der Richtung des Bahnhofs den Boulevard hinunter kommenden Automobile. Der Gegenverkehr von Duroc her wurde gebieterisch an den rechten Straßenrand verwiesen.
Kaum hatte er sämtliche Fahrzeuge zum Stillstand gebracht, als auch schon das entfernte Heulen von Polizeisirenen aus der Richtung Duroc hörbar wurde. Von der Ecke der rue de Vaugirard aus den Boulevard hinunterblickend, sah der Schakal fünfhundert Meter weiter einen aus dem Boulevard des Invalides kommenden Automobilkonvoi über die Kreuzung der rue de Sevres hinweg auf sich zufahren. Vornweg knatterten zwei lederbekleidete Motorradfahrer in weißen Helmen, die im Sonnenlicht blinkten, und ließen ihre Sirenen aufheulen. Hinter ihnen wurden die Haifischmäuler zweier Citroen DS 19 sichtbar. Der Polizist, der mit dem Rücken zum Schakal auf der Kreuzung stand und den Verkehr regelte, wies, den gebeugten rechten Arm mit der Handfläche nach unten über die Brust gelegt und so die Vorfahrt des herannahenden Konvois signalisierend, mit straff ausgestrecktem linkem Arm zur Avenue du Maine.