Es folgten mehrere Sätze des Inhalts, daß die Dinge in Frankreich, wo an jeder Straßenecke flies die Ausweise kontrollierten und noch immer Anweisungen zu neuen Einbrüchen in Juwelierläden kämen, von Tag zu Tag schwieriger würden. Er selbst habe bei vier solcher Überfälle mitgemacht, schrieb Kovacs, und ein Vergnügen sei das, weiß Gott, nicht gewesen, schon deswegen nicht, weil man das ganze Zeug habe abliefern müssen. Da habe er sich in den guten alten Zeiten in Budapest weit besser gestanden, obwohl die nur zwei Wochen gedauert hätten.
Der letzte Satz berichtete davon, daß Kovacs vor einigen Wochen Michael getroffen habe, und Michael habe gesagt, daß er Jo-Jo gesehen habe, die gesagt habe, daß die kleine Sylvie krank sei und Leuko-irgendwas hätte. Jedenfalls hatte es damit zu tun,daß mit ihrem Blut etwas nicht in Ordnung sei, aber er, Kovacs, hoffe, daß sie bald wieder gesund würde, und Viktor solle sich keine Sorgen machen.
Aber Viktor machte sich Sorgen. Der Gedanke daran, daß die kleine Sylvie krank war, beunruhigte ihn sehr. In den sechsunddreißig gewalttätigen Jahren seines Lebens hatte es nicht sonderlich vieles gegeben, was Viktor Kowalsky unter die Haut gegangen war. Als die Deutschen in Polen einmarschierten, war er zwölf Jahre alt gewesen, und ein Jahr älter, als seine Eltern in einem grauen Lastwagen abgeholt wurden — alt genug, um zu wissen, was seine Schwester in dem großen, hinter der Kathedrale gelegenen Hotel tat, das von den Deutschen übernommen worden war und von ihren Offizieren rege besucht wurde. Seine Eltern hatten sich so sehr darüber empört, daß sie sich bei der Dienststelle des Militärbefehlshabers beschwerten. Er war alt genug, sich den Partisanen anzuschließen. Seinen ersten Deutschen hatte er mit fünfzehn getötet. Er war siebzehn Jahre alt, als die Russen kamen, aber seine Eltern hatten sie stets gefürchtet und gehaßt und ihm schaurige Geschichten von dem erzählt, was sie den Polen antaten, und so trennte er sich von der Partisanengruppe, die später auf Befehl des Kommissars exekutiert wurde, schlug sich nach Westen in die Tschechoslowakei durch und landete schließlich in einem Lager für Displaced Persons in Österreich. Man hielt den hochaufgeschossenen, grobknochigen Jungen, der nur Polnisch sprach und vom Hunger geschwächt war, für einen der unzähligen hilflosen Entwurzelten, die ziellos im Nachkriegseuropa umherwanderten. Amerikanische Verpflegung ließ ihn rasch wieder zu Kräften kommen. Eines Nachts im Frühjahr 1946 entwich er aus dem Lager, machte sich per Anhalter auf den Weg nach Italien und von dort in Begleitung eines anderen Polen, den er im DP-Lager kennengelernt hatte und der Französisch sprach, nach Frankreich. In Marseille verübte er einen nächtlichen Ladeneinbruch, brachte den Besitzer um, der ihn überrascht hatte, und war neuerlich auf der Flucht. Sein Kumpan trennte sich von ihm und gab Viktor den Rat, zur Fremdenlegion zu gehen. Er unterschrieb am nächsten Morgen, und noch ehe die polizeilichen Ermittlungen im vom Krieg zerstörten Marseille richtig angelaufen waren, befand er sich in Sidi-bel-Abbes. Marseille war damals noch immer das große Importzentrum für amerikanische Lebensmittel, und dieser Lebensmittel wegen verübte Morde gehörten zur Tagesordnung.
Der Fall wurde binnen kurzem zu den Akten gelegt, weil sich kein der Tat unmittelbar Verdächtiger finden ließ. Kowalsky war damals neunzehn, und die alten Kämpen der Fremdenlegion nannten ihn anfänglich »petit bonhomme«. Dann zeigte er ihnen, wie gut er killen konnte, und von da ab nannten sie ihn Kowalsky.
Sechs Jahre Indochina beseitigten vollends, was in ihm von einer normalen, zivilisierten Maßstäben angepaßten Persönlichkeit übriggeblieben sein mochte, und danach wurde der hünenhafte Korporal nach Algerien versetzt. Zwischendurch schickte man ihn jedoch auf einen sechsmonatigen Waffenlehrgang nach Marseille. Dort lernte er Julie, eine kleine, aber bösartige Hure, die mit ihrem Zuhälter Schwierigkeiten hatte, in einer Hafenbar kennen. Kowalsky beförderte den Mann mit einem einzigen Schlag, der ihn erst zehn Stunden später das Bewußtsein wiedererlangen ließ, sechs Meter weit quer durch den Schankraum. Noch
Jahre danach hatte der Mann Artikulationsschwierigkeiten, so übel war sein Unterkiefer zugerichtet worden.
Julie gefiel der riesenhafte Korporal, und ein paar Monate lang begleitete er sie als ihr ständiger» Beschützer «regelmäßig auf ihrem nächtlichen Heimweg von der Arbeit in ihre schlampige Dachbodenkammer am Vieux Port. Ihre Beziehung bescherte beiden, besonders aber ihr, ein beträchtliches Maß an körperlicher Lust, hatte jedoch mit Liebe nur wenig zu tun; und als sie entdeckte, daß sie schwanger war, noch weniger. Sie behauptete, das Kind sei von ihm, und er mag ihr das geglaubt haben, weil er es glauben wollte. Sie sagte ihm auch, daß sie es nicht haben wolle und eine alte Frau kenne, die es ihr wegmachen würde. Kowalsky schlug sie und drohte ihr, sie umzubringen, wenn sie das täte. Drei Monate später mußte er nach Algerien zurückkehren. Er hatte sich inzwischen mit einem anderen Exilpolen angefreundet, einem Josef Grzybowski, genannt Jo-Jo, der Pole, der als Invalide aus dem Indochinakrieg gekommen war und sich mit einer lustigen Witwe zusammengetan hatte, die auf dem Hauptbahnhof einen fahrbaren Imbißstand die Bahnsteige hinauf- und hinunterschob. Seit sie 1953 geheiratet hatten, betrieben sie das Geschäft gemeinsam, und Jo-Jo hinkte hinter seiner Frau her, nahm das Geld entgegen und gab Kleingeld heraus, während sie die Snacks austeilte. An seinen freien Abenden suchte Jo-Jo mit Vorliebe die von den Legionären aus den nahen Kasernen frequentierten Kneipen auf, um von den alten Zeiten zu reden. Es waren meist junge Burschen,die man seit seinen längst vergangenen Tagen in Tourane in die Fremdenlegion aufgenommen hatte, aber eines Abends war er auf Kowalsky gestoßen. Und Jo-Jo war es gewesen, den Kowalsky wegen des Babys um Rat gefragt hatte. Jo-Jo hatte ihm den Rücken gestärkt. Schließlich waren sie beide einmal Katholiken gewesen.
«Sie will sich das Kind wegmachen lassen«, sagte Viktor.
«Salope«, sagte Jo-Jo.
«Dreckstück«, pflichtete ihm Viktor bei. Sie tranken weiter und starrten trübe in die Spiegelglasscheibe hinter der Theke.
«Nicht anständig gegen den kleinen Kerl«, meinte Viktor.
«Sauerei«, stimmte ihm Jo-Jo zu.
«Hab' noch nie ein Kind gehabt«, sagte Viktor nach einigem Nachdenken.
«Ich auch nicht, obwohl ich verheiratet bin und alles«, entgegnete Jo-Jo.
Irgendwann lange nach Mitternacht trafen sie eine Abmachung und stießen mit der Ernsthaftigkeit der total Betrunkenen darauf an. Am nächsten Morgen fiel Jo-Jo sein feierliches Versprechen wieder ein, aber er wußte nicht, wie er es Madame beibringen sollte. Er brauchte drei Tage dazu. Ein- oder zweimal redete er vorsichtig um den heißen Brei herum, dann platzte er, als die Dame neben ihm im Bett lag, mit der Sache heraus. Zu seiner Erleichterung war Madame hocherfreut. Und so war denn alles klar.
Viktor kehrte nach Algerien zurück, wo er Major Rodin, der jetzt ein Bataillon befehligte, wieder zugeteilt wurde, und zog mit ihm in einen neuen Krieg. In Marseille überwachten Jo-Jo und seine Frau die schwangere Julie und bedachten sie abwechselnd mit Drohungen und Schmeicheleien. Als Viktor Marseille verließ, war sie bereits im vierten Monat, und wie Jo-Jo dem Zuhälter mit dem gebrochenen Unterkiefer, der sich sehr bald wieder eingefunden hatte, unmißverständlich zu verstehen gab, kam eine Abtreibung nicht mehr in Frage. Der Bursche hatte inzwischen begriffen, daß es nicht ratsam war, sich mit Fremdenlegionären, und sei es auch nur ein Veteran mit einem Holzbein, ernstlich anzulegen; er stieß obszöne Verwünschungen gegen die vormalige Quelle seines Einkommens aus und sah sich anderweitig um.