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Ende 1955 gebar Julie ein blauäugiges, goldhaariges Mädchen. Mit Zustimmung der Mutter reichten Jo-Jo und seine Frau einen vorschriftsmäßig ausgefüllten Adoptionsantrag ein, der genehmigt wurde. Julie nahm ihr altes Leben wieder auf, und die Jo-jos hatten eine Tochter. Sie unterrichteten Viktor brieflich, den auf seinem Strohsack in der Kaserne ein seltsames Glücksgefühl überkam. Aber er sprach mit niemandem darüber. Soweit er zurückdenken konnte, hatte er nie etwas besessen, was ihm nicht, sobald er anderen davon Mitteilung machte, fortgenommen worden war.

Ungeachtet dessen hatte er drei Jahre später, bevor ihn ein langfristiger Kampfauftrag in die algerischen Berge führte, den Vorschlag des Kaplans, sein Testament zu machen, akzeptiert. Von selbst wäre er schon deswegen nie auf die Idee gekommen, weil er in den wenigen dienstfreien Tagen regelmäßig seinen gesamten aufgelaufenen Sold in den Kneipen und Bordellen der Städte auszugeben pflegte, und was er sonst besaß, gehörte der Legion. Aber der Kaplan versicherte ihm, daß es in der heutigen Legion keineswegs unüblich sei, ein Testament zu machen, und mit freundlicher Hilfe des Geistlichen setzte Kowalsky seines auf. Er vermachte seine gesamte bewegliche Habe der Tochter des derzeit in Marseille wohnhaften ehemaligen Fremdenlegionärs Josef Grzybowski. Eine Kopie dieses Dokuments wurde zusammen mit seinen restlichen Personalunterlagen dem Ministerium der bewaffneten Streitkräfte in Paris übersandt und im dortigen Archiv abgelegt. Als Kowalskys Name den französischen Sicherheitsbehörden im Zusammenhang mit den 1961 in Bone und Constantine verübten Terrorakten zur Kenntnis gelangte, wurde seine Personalakte zusammen mit vielen anderen ausgegraben und Oberst Rollands Aktionsdienst übersandt. Ein Besuch bei den Grzybowskis in Marseille folgte, und die Geschichte war heraus. Aber Kowalsky erfuhr nie etwas davon.

Er hatte seine Tochter zweimal in seinem Leben gesehen, das erstemal 1957, als er am Oberschenkel verwundet und auf Genesungsurlaub nach Marseille geschickt worden war, und dann wieder 1960, als er Oberstleutnant Rodin, der als Zeuge bei einer Militärgerichtsverhandlung in Marseille erscheinen mußte, dienstlich begleitete. Beim ersten Besuch war das kleine Mädchen zwei, beim nächsten viereinhalb Jahre alt gewesen. Mit Geschenken für die Jo-Jos und Spielzeug für Sylvie beladen, war Kowalsky angekommen. Das kleine Kind und sein bärenstarker Onkel Viktor hatten sich gut verstanden. Aber er sprach mit niemandem darüber, nicht einmal mit Rodin. Und jetzt hatte sie Leuko-irgendwas, und Kowalsky war den restlichen Vormittag hindurch außerordentlich beunruhigt. Nach dem Mittagessen ging er nach oben, um sich das Stahletui für die Post ans Handgelenk ketten zu lassen. Rodin erwartete einen wichtigen Brief aus Frankreich, der weitere Einzelheiten über die Höhe der Gesamtsumme enthielt, die durch die von Cassons kriminellen Untergrundelementen während des letzten Monats ver-übten Banküberfälle und Einbrüche erbracht worden war, und wollte daher, daß Kowalsky am Nachmittag nochmals zum Postamt ging.

«Was ist Leuko-irgendwas?«brach es unvermittelt aus dem Korporal hervor.

Rodin, der ihm die Kette ans Handgelenk schloß, blickte überrascht auf.

«Davon habe ich noch nie etwas gehört«, sagte er.

«Es ist eine Blutkrankheit«, fügte Kowalsky hinzu.

Casson, der in einer anderen Ecke des Hotelzimmers saß und in einem Magazin blätterte, lachte.

«Sie meinen Leukämie«, sagte er.

«Ja. Was ist das, Monsieur?«

«Es ist Krebs«, sagte Casson.»Blutkrebs.«

Kowalsky sah Rodin an. Er traute Zivilisten nicht.

«Aber die Quacksalber können es doch heilen, mon colonel?«

«Nein, Kowalsky, Leukämie ist unheilbar. Da kann man nichts machen. Warum?«

«Ach, nichts«, murmelte Kowalsky,»ich hab' nur so was gelesen.«

Dann ging er. Wenn Rodin überrascht gewesen war, daß sein Leibwächter, von dem niemand angenommen hätte, daß er jemals etwas Komplizierteres als seinen Tagesbefehl durchgelesen hatte, auf ein solches Wort gestoßen sein sollte, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken, und der Vorfall geriet bei ihm rasch in Vergessenheit. Denn mit der Nachmittagspost war der erwartete Brief gekommen, der besagte, daß sich das gesamte Guthaben der OAS auf schweizerischen Bankkonten jetzt auf mehr als 250000 Dollar belief.

Rodin war zufrieden, als er sich hinsetzte, um den Banken zu schreiben und die Überweisung des Betrags auf das Konto des gedungenen Killers zu veranlassen. Wegen der restlichen Summe machte er sich keine Sorgen. Wenn Präsident de Gaulle erst einmal tot war, würden die Bankiers und Industriellen der extremen

Rechten, die die OAS in früheren und erfolgreicheren Tagen finanziert hatten, nicht anstehen, ihrerseits die anderen 250000 Dollar beizubringen. Dieselben Leute, die seine dringenden Bitten um einen weiteren Vorschuß noch vor wenigen Wochen mit dem fadenscheinigen Hinweis abgelehnt hatten, der» Mangel an Initiativen und eindrucksvollen Erfolgen«, den die patriotischen Kräfte in den letzten Monaten gezeigt hätten, habe ihre Aussichten, jemals von den bei früheren Gelegenheiten investierten Geldern etwas wiederzusehen, erheblich vermindert — dieselben Leute würden sich um die Ehre reißen, die Militärs, die in Kürze die neuen Herren des wiedergeborenen Frankreich wären, finanziell nach Kräften zu unterstützen. Bei Einbruch der Dunkelheit hatte er die Anweisungen an die Banken aufgesetzt, aber als Casson die von Rodin verfügten Instruktionen las, denen zufolge die schweizerischen Bankhäuser das Geld an den Schakal überweisen sollten, erhob er Einwände. Er machte geltend, daß eine eminent wichtige Zusage, die sie alle drei ihrem Engländer gemacht hatten, darin bestand, ihm einen Kontaktmann in Paris zu nennen, der in der Lage war, ihn mit den jeweils neuesten Informationen über die Aktivitäten des französischen Präsidenten wie auch jede mögliche Änderung der seine Person betreffenden Sicherheitsvorkehrungen zu versorgen. Diese Informationen könnten, ja würden für den Killer von entscheidender Bedeutung sein. Den Schakal zum gegenwärtigen Zeitpunkt von der Überweisung des Geldes in Kenntnis setzen, hieße, so argumentierte Casson, ihn zu vorzeitigem Handeln ermutigen. Wann der Mann zuschlagen wolle, war ausschließlich ihm selbst überlassen, dabei würden ein paar Tage keinen entscheidenden Unterschied machen. Was dagegen sehr wohl den Unterschied zwischen einem Erfolg und einem weiteren, dann aber gewiß letztmaligen Fehlschlag bewirken könne, das seien die dem Killer verfügbaren Informationen.

Er, Casson, habe mit der heutigen Post Nachricht erhalten, daß es seinem wichtigsten Repräsentanten in Paris gelungen sei, einen Agenten in unmittelbare Nähe eines zu de Gaulles engstem Mitarbeiterstab zählenden Mannes zu placieren. Schon in wenigen Tagen würde dieser Agent in der Lage sein, über den jeweiligen Aufenthaltsort, die Reisepläne und jedes vorgesehene öffentliche Auftreten des Generals — über Dinge also, die nicht mehr im voraus angekündigt zu werden pflegten — laufend verläßliche Informationen zu erhalten. Ob Rodin daher seine Instruktionen bitte noch ein paar Tage zurückhalten würde, bis er, Casson in der Lage sei, dem Killer eine Pariser Telephonnummer zu nennen, unter der er die für das Gelingen seines Auftrags so entscheidend wichtigen Informationen erhalten könne?

Rodin ließ sich Cassons Einwände lange durch den Kopf gehen und kam endlich zu dem Schluß, daß er recht habe. Keiner der beiden Männer konnte wissen, wie der Schakal vorzugehen beabsichtigte, und in der Tat würden die Instruktionen an die Schweizer Banken, gefolgt von der Übersendung des Briefs mit der Pariser Telephonnummer nach London, den Killer in keiner Weise zu einer Änderung seines Zeitplans veranlaßt haben. Keiner der Terroristen in Rom konnte ahnen, daß der Schakal den Tag schon festgelegt hatte und seine Vorbereitungen und Absicherungen gegen unvorhergesehene Zufälle mit der Präzision eines Uhrwerks fortsetzte.