Zehn Minuten später war Paris unterrichtet und nach weiteren zehn Minuten auch Marseille informiert.
Die Viscount der Alitalia flog einen weiten Bogen über der unglaublich blauen Bucht und schwenkte dann zum Anflug auf den Flughafen Marignane ein. Die hübsche römische Stewardess beendete ihren lächelnden Rundgang, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, daß alle Passagiere angeschnallt waren, und setzte sich auf ihren Platz im Heck des Flugzeugs, um sich ihrerseits den Sicherheitsgurt umzulegen.
Ihr fiel auf, daß der Fluggast im Sessel vor ihr unverwandt aus dem Fenster auf die blendendhelle Öde des Rhönedeltas hinabstarrte, als habe er es nie zuvor gesehen. Der große, ungeschlachte Mann sprach kein Italienisch, und sein Französisch verriet seineHerkunft aus irgendeinem osteuropäischen Land. Er trug eine schwarze Baskenmütze auf seinem kurzgeschnittenen schwarzen Haar, einen zerknitterten dunklen Anzug und eine dunkle Sonnenbrille, die er nicht abzunehmen pflegte. Ein riesiges Pflaster verdeckte seine eine Gesichtshälfte; er mußte sich ziemlich arg geschnitten haben, dachte sie.
Sie landeten pünktlich auf die Minute, und da die Maschine unweit des Flughafengebäudes zum Stehen kam, begaben sich die Fluggäste zu Fuß zur Zollkontrolle in die Halle hinüber.
Als die ersten Passagiere durch die geöffneten Glastüren traten, stieß ein kleiner, nahezu kahlköpfiger Mann den neben ihm stehenden Beamten der Paßkontrolle unauffällig an.»Großer Bursche, schwarze Baskenmütze, Heftpflaster. «Dann schlenderte er weiter und gab den anderen Beamten die gleiche Personenbeschreibung.
Die Fluggäste stellten sich in zwei Reihen auf, um die Kontrolle zu passieren. Die Beamten saßen einander auf drei Meter Entfernung hinter ihren Gittern gegenüber und ließen die Passagiere einzeln zwischen sich hindurch. Die Fluggäste wiesen ihren Paß und die Landekarte vor. Die Beamten gehörten der Sicherheitspolizei an, die über die Kontrolle einreisender Ausländer und zurückkehrender Franzosen hinaus für die gesamte innere Sicherheit Frankreichs verantwortlich war.
Als Kowalsky an der Reihe war, blickte der Mann in der blauen Uniformjacke kaum auf. Er drückte seinen Stempel auf die gelbe Landekarte, nickte und bedeutete dem schwerfälligen großen Mann mit einer Handbewegung, daß er weitergehen könne. Erleichtert begab sich Kowalsky zur Zollkontrolle. Einige der Zollbeamten hatten sich gerade angehört, was ihnen der kleine, nahezu kahlköpfige Mann zu sagen hatte, bevor er sich in das hinter ihnen gelegene verglaste Büro begab. Der dienstälteste Zollbeamte rief Kowalsky zu: Monsieur, votre bagage.«
Er deutete zum Förderband hinüber, an dem die anderen Fluggäste auf ihr Gepäck warteten, das aus dem draußen im Sonnenschein stehenden Wagen entladen wurde. Kowalsky beugte sich zu den Zollbeamten hinunter. »J'ai pas de bagage«, sagte er. Der Zolbeamte hob die Brauen.
«Pas de bagage? Eh bien, avez vous quelque chose a declarer?«»Non, rien«, sagte Kowalsky.
Der Zollbeamte lächelte freundlich, fast so breit wie sein singsangartiger Marseiller Dialekt. »Eh bien, passez, monsieur.« Er wies zum Ausgang, der zum Taxistand führte. Kowalsky nickte und trat in den Sonnenschein hinaus. Nicht gewohnt, für seine Bequemlichkeit Geld auszugeben, zog er es vor, den Flughafenbus zu nehmen.
Als er das Gebäude verlassen hatte, umringten einige der Zollbeamten ihren dienstältesten Kollegen.
«Was die wohl von ihm wollen«, sagte einer.
«Sah ziemlich finster aus, der Bursche«, meinte ein zweiter.
«Er wird noch ganz anders aussehen, wenn die Brüder mit ihm fertig sind«, sagte ein dritter und deutete auf das hinter ihnen gelegene Büro.
«Los, geht wieder an die Arbeit«, unterbrach sie der ältere Beamte.»Unsere Pflicht fürs Vaterland haben wir heute getan.«
«Für Charles den Großen, meinst du wohl«, entgegnete der erste, als die Gruppe sich auflöste, und murmelte leise:»Wenn er doch nur verrecken würde.«
Es war Mittagszeit, als der Bus schließlich vor dem Air-France-Gebäude im Zentrum der Stadt hielt, und zu dieser Stunde sogar noch heißer als in Rom. Die Augusthitze lastete wie eine Krankheit auf der Stadt, kroch in jede Fiber des Körpers, raubte ihm die Kraft und Energie, irgend etwas anderes tun zu wollen, als bei geschlossen Jalousien mit auf vollen Touren gestelltem Ventilator in einem kühlen Zimmer zu liegen.
Selbst die Cannebiere, sonst die unermüdlich pulsierende Verkehrsader der Stadt, war wie ausgestorben. Kowalsky brauchte eine halbe Stunde, um ein Taxi zu finden; die meisten Fahrer hatten ihre Wagen irgendwo im Schatten abgestellt und hielten Siesta.
Die Adresse, die Jo-Jo ihm genannt hatte, gab ein an der in Richtung Cassis aus der Stadt hinausführenden Hauptstraße gelegenes Haus an. Auf der Avenue de la Liberation bat er den Fahrer, ihn abzusetzen, weil er das letzte Stück zu Fuß gehen wollte. Dem »Si vous voulez«des Taxifahrers war deutlich anzumerken, was er von Ausländern hielt, die bei dieser Hitze mehr als fünf Meter zu Fuß gingen, obwohl ihnen ein Wagen zur Verfügung stand.
Kowalsky sah dem in die Stadt zurückfahrenden Taxi nach, bis es aus der Sicht entschwunden war, und machte sich auf den Weg. Er fand die Seitenstraße, die ihm von einem auf der Terrasse be-dienenden Cafehauskellner, den er im Vorbeigehen befragt hatte, genannt worden war, sehr rasch. Der Wohnblock sah ziemlich neu aus, und Kowalsky dachte, daß sich das Geschäft mit dem fahrbaren Erfrischungsstand auf dem Bahnsteig für die Jo-Jos gut entwickelt haben mußte. Vielleicht hatten sie den Kiosk bekommen, mit dem Madame Jo-Jo seit Jahren liebäugelte. Das würde die Verbesserung ihres Lebensstandards hinreichend erklären. Und für die kleine Sylvie war es in jedem Fall besser, in dieser Wohngegend aufzuwachsen als in der Nähe der Docks. Bei dem Gedanken an seine Tochter und die unsinnige Überlegung, die er ihretwegen soeben angestellt hatte, blieb er am Fuß der Treppe, die zu dem Wohnblock hinaufführte, stehen. Was hatte Jo-Jo am Telephon gesagt — eine Woche? Vielleicht vierzehn Tage? Das war doch nicht möglich!
Er rannte die Treppe hinauf und las die Namensschilder an den Briefkästen, die in doppelter Reihe an der linken Wand der Eingangshalle befestigt waren. Auf einem Schild stand» Grzybowski, Apartment 23«. Er beschloß, nicht auf den Aufzug zu warten, denn die Wohnung lag im zweiten Stock.
An der Tür zum Apartment 23 befand sich eine kleine weiße Karte, die in ein für das Namensschild vorgesehenes Rähmchen gesteckt war. In Schreibmaschinenschrift stand» Grzybowski «darauf. Die Tür war am Ende des Korridors und wurde von den Türen der Apartments 22 und 24 flankiert. Kowalsky klingelte. Die Tür öffnete sich, und aus dem Spalt heraus fuhr der Griff einer Spitzhacke auf seinen Schädel nieder. Der Schlag riß ihm die Haut auf, prallte jedoch mit einem dumpfen Knall von seiner Schädeldecke ab. Gleichzeitig wurden zu beiden Seiten des Polen die Türen der angrenzenden Apartments 22 und 24 aufgerissen, aus denen eine Anzahl Männer herausstürzte. Alles das spielte sich in Bruchteilen von Sekunden ab. Kowalsky sah rot. Obschon seine Reaktionsfähigkeit sonst nicht die schnellste war, gab es eine Technik, die er wie kein zweiter beherrschte — die des Kämpfens.