«Ende des Jahres«, gelobte er sich,»mache ich endgültig Schluß mit diesem mörderischen Beruf. «Hohläugig starrte ihn das Gesicht aus dem Spiegel an. Skepsis oder Resignation? Vielleicht wußte es das Gesicht besser, als er es sich eingestehen wollte. Nach einer gewissen Anzahl von Jahren kam man von all dem nicht mehr los. Man blieb, was man geworden war, für den Rest seines Lebens. Von der Resistance zur Sicherheitspolizei, dann der SDECE und schließlich der Aktionsdienst. Wie viele Männer und wieviel Blut es in all den Jahren gekostet hatte — und alles für Frankreich. Und womit, fragte er das Gesicht im Spiegel, vergalt
Frankreich es ihm? Das Gesicht im Spiegel sah ihn an und blieb stumm. Denn die Antwort darauf wußten sie beide.
Oberst Rolland bestellte einen motorisierten Kurier, der sich persönlich bei ihm melden sollte. Er bestellte auch Spiegeleier, Brötchen und weiteren Kaffee — diesmal eine große Tasse cafe au lait — sowie Aspirintabletten gegen seine Kopfschmerzen. Er gab dem Motorradfahrer seine Anweisungen und händigte ihm den versiegelten Umschlag aus. Nachdem er die Spiegeleier und die Brötchen verzehrt hatte, nahm er seinen Kaffee und trank ihn am offenen Fenster der Westseite seines Büros, von der aus man auf Paris blickte. Über die Dächer des Häusermeers hinweg konnte er in dem warmen Morgendunst, der über der Seine hing, die Türme von Notre-Dame und in noch weiterer Ferne den Eiffelturm sehen. Es war bereits nach 9 Uhr, und die Stadt war an jenem 11. August wie immer um diese Stunde schon von geschäftigem Leben erfüllt. Ob er am Ende des Jahres noch eine Position innehaben würde, von der er sich günstig pensionieren lassen konnte, das, dachte Rolland, hing nicht zuletzt davon ab, ob die Gefahr abgewendet werden konnte, die er in dem Bericht beschrieben hatte, der jetzt in der Meldetasche des Motorradfahrers steckte.
NEUNTES KAPITEL
Am späten Vormittag des gleichen Tages saß der Minister des Inneren an seinem Schreibtisch und starrte düster aus dem Fenster seines Arbeitszimmers in den sonnenbeschienenen runden Innenhof hinunter. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes sah man das schmiedeeiserne Portal mit dem Wappen der Republik Frankreich, und dahinter lag die Place Beauvau, in deren Mitte ein Polizist den ihn umtosenden Strom des Verkehrs aus der rue Faubourg St-Honore und der Avenue de Marigny regelte.
Aus der rue Miromesnil und der rue des Saussaies, den anderen beiden Straßen, die auf den Platz mündeten, brachen auf seinen Pfiff weitere Verkehrsströme hervor, schössen über die Place Beauvau hinweg und verebbten. Der Polizist schien die fünf tödlichen Pariser Verkehrsströme zu dirigieren wie ein Torero den Stier — selbstbewußt, überlegen und würdevoll. M. Roger Frey beneidete ihn um die Überschaubarkeit seiner Aufgabe und das gelassene Selbstvertrauen, mit dem er sie meisterte.
An dem schmiedeeisernen Portal des Ministeriums standen zwei Gendarmen und bewunderten die Virtuosität ihres in der Mitte des Platzes postierten Kollegen. Sie trugen ihre umgehängten Maschinenpistolen auf dem Rücken und blickten, ihrer gesicherten Laufbahn mit dem festen Gehalt und ihres Platzes an der warmen Augustsonne gewiß, durch das schützende schmiedeeiserne Gitter in die Außenwelt hinaus. Der Minister beneidete auch sie um die Schlichtheit ihres Lebens und ihrer Ambitionen.
Er hörte Papier rascheln und wandte sich auf seinem Drehstuhl wieder dem Schreibtisch zu. Durch den breiten Tisch von ihm getrennt, schloß der Mann, der ihm gegenübersaß, das Dossier und legte es vor den Minister auf den Schreibtisch. Die beiden Männer blickten einander stumm an. In der Stille waren nur das Ticken der feuervergoldeten Uhr auf dem Kaminsims und die gedämpft von der Place Beauvau herüberdringenden Straßengeräusche zu hören.
«Nun, was halten Sie davon?«
Kommissar Jean Ducret, Chef der persönlichen Sicherungsgruppe Präsident deGaulles, war einer der hervorragendsten Experten Frankreichs in allen Fragen der Staaatssicherheit, darunter insbesondere solchen, die den Schutz einer einzelnen hochgestellten Person vor Mordanschlägen betrafen. Da war der Grund, weshalb er diese Stellung innehatte, und das war auch der Grund, warum bis zu jenem Zeitpunkt sechs bekanntgewordene Mordverschwörungen gegen den Präsidenten entweder fehlgeschlagen waren oder rechtzeitig aufgedeckt werden konnten.
«Rolland hat recht«, sagte er schließlich. Seine Stimme war sachlich und unbeteiligt, als gäbe er das zu erwartende Ergebnis eines Fußballspiels bekannt.»Wenn seine Vermutungen zutreffen, stellt die Verschwörung in der Tat eine ungewöhnlich ernste Bedrohung dar. Alle Karteien und Listen der französischen Sicherheitsbehörden wie auch das ganze Netz der in die OAS eingeschleusten Agenten wären angesichts eines Außenseiters — noch dazu eines Ausländers —, der ohne Freunde und Kontakte, ganz allein und nur auf sich selbst gestellt, arbeitet, nutzlos. Wie Rolland ganz richtig schreibt«- er schlug die letzte Seite des vom Chef des Aktionsdienstes verfaßten Berichts auf und las laut daraus vor —,»handelt es sich um den >denkbar gefährlichsten Plan<, den man sich nur vorstellen kann.«
Roger Frey fuhr sich mit der Hand durch das kurzgeschnittene eisengraue Haar und drehte sich auf seinem Stuhl wieder dem Fenster zu. Er war ein Mann, den so leicht nichts aus der Ruhe brachte, aber am Vormittag dieses 11. August war er beunruhigt. In den langen Jahren, in denen er sich als ergebener Anhänger de-Gaulles um dessen Sache verdient machte, hatte er sich den Ruf erworben, daß hinter der Intelligenz und der liebenswürdigen Verbindlichkeit, die ihm zu dem Ministersessel verhelfen hatten, ein harter Mann steckte. Die strahlendblauen Augen, deren Blick von gewinnender Wärme zu eisiger Kälte wechseln konnte, die Männlichkeit des gedrungenen Oberkörpers mit den breiten Schultern und das gutgeschnittene, von rücksichtsloser Willenskraft zeugende Gesicht, das die bewundernden Blicke nicht weniger Frauen auf sich zog, welche die Gesellschaft mächtiger Männer zu schätzen wußten, alles das diente Roger Frey nicht als Ersatz für ein fehlendes Wahlprogramm.
In den alten Zeiten, als die Gaullisten sich noch gegen die feindselige Haltung der Amerikaner, die Indifferenz der Briten, die Ambitionen der Giraudisten und die Skrupellosigkeit der Kommunisten durchsetzen mußten, hatte er seinen politischen Nahkampfstil entwickelt. Irgendwie hatten sie es geschafft, und zweimal innerhalb von achtzehn Jahren war der Mann, dem sie folgten, aus dem Exil zurückgekehrt, um die Macht in Frankreich wieder zu übernehmen. Und in den letzten beiden Jahren war der Kampf neuerlich ausgebrochen, diesmal gegen die Männer, die dem General zweimal den Weg zur Macht geebnet hatten. Bis vor wenigen Minuten hatte der Minister geglaubt, daß dieser letzte Kampf zu Ende ginge und sich die Feinde abermals in ohnmächtigem Haß und hilfloser Wut geschlagen geben würden.
Jetzt wußte er, daß es noch nicht ausgestanden war. Ein magerer, fanatischer Oberst in Rom hatte einen Plan ausgeheckt, der das ganze Gebäude des Staates zum Einsturz bringen konnte, wenn er den Tod eines einzigen Mannes herbeiführte.
Es gab Länder — das hatte Großbritannien vor achtundzwanzig Jahren bewiesen und sollte Amerika noch im gleichen Jahr ebenfalls beweisen —, deren Institutionen stabil genug waren, um sie den Tod ihres Präsidenten oder die Abdankung ihres Königs überstehen zu lassen.
Aber Roger Frey war sich des Zustands der Institutionen Frankreichs im Jahre 1963 nur allzu bewußt, um sich keiner Täuschung darüber hinzugeben, daß der Tod des Präsidenten nichts anderes als den Auftakt für Putsch und Bürgerkrieg bedeuten konnte.
«Nun«, bemerkte er schließlich, ohne den Blick von dem in gleißendem Sonnenlicht daliegenden Innenhof zu wenden,»er muß informiert werden.«