Der Polizeibeamte schwieg. Es gehörte zu den Vorzügen, die der Beruf eines Spezialisten mit sich brachte, daß man seine Arbeit verrichtete und die wichtigen Entscheidungen denen überließ, die dafür bezahlt wurden, sie zu treffen. Der Minister wandte sich ihm wieder zu.
«Bien. Merci, Commissaire. Dann werde ich den Präsidenten noch heute nachmittag um eine Audienz ersuchen und ihn unterrichten. «Die Stimme des Innenministers klang lebhaft und entschlossen.»Ich brauche Sie nicht erst zu bitten, absolutes Stillschweigen über diese Angelegenheit zu wahren, bis ich Gelegenheit gehabt habe, dem Präsidenten die Lage darzulegen, und er darüber entschieden hat, wie er die Sache gehandhabt wissen will. «Kommissar Ducret stand auf und verließ das Arbeitszimmer des Innenministers, um in sein keine hundert Schritte entferntes, auf der anderen Seite der rue Faubourg St-Honore gelegenes Büro im Palast zurückzukehren. Wieder allein, las der Innenminister nochmals den Bericht durch. Er bezweifelte nicht, daß Rollands Einschätzung der Lage zutreffend war, und Ducrets übereinstimmende Beurteilung ließ ihm für eine lavierende Handhabung der Angelegenheit keinen Spielraum. Die Gefahr war da, sie war ernst, unabwendbar, und der Präsident mußte ins Bild gesetzt werden.
Widerstrebend drückte er auf eine Taste der Haussprechanlage und verlangte den Generalsekretär im Elysee-Palast. Innerhalb einer Minute klingelte das rote Telephon neben der Haussprechanlage. Er nahm den Hörer ab.»Monsieur Foccart, s'il vousplatt.« Nach wenigen Sekunden meldete sich die trügerisch sanfte Stimme eines der mächtigsten Männer Frankreichs. Roger Frey erklärte kurz, was er wollte und warum es ihm so dringlich sei, den Präsidenten zu sprechen.»So rasch wie möglich, Jacques… Ja, ich weiß, Sie müssen erst nachsehen. Ich warte. Rufen Sie mich bitte zurück, sobald Sie können.«
Der Anruf kam nach einer Stunde. Die Audienz war auf 4 Uhr am selben Nachmittag festgesetzt worden; sobald der Präsident seine Siesta gehalten hatte, würde er für Frey zu sprechen sein. Eine Sekunde lang war der Minister versucht, darauf hinzuweisen, daß das, was er dem Präsidenten zu sagen hatte, wichtiger als dessen Siesta sei, aber er besann sich eines Besseren. Wie jedermann im Gefolge des Präsidenten wußte er, daß es nicht ratsam war, sich mit dem glattzüngigen Beamten anzulegen, der jederzeit das Ohr des Präsidenten hatte und dem Vernehmen nach eine private Kartei mit intimen Informationen angelegt hatte, deren Existenz, obschon niemand Genaues darüber wußte, die Gemüter außerordentlich beunruhigte.
Zwanzig Minuten vor vier verließ der Schakal nach einer der köstlichsten und kostspieligsten Fischmahlzeiten, die auf Meeresfrüchte spezialisierte Londoner Gastronomen zu bieten haben, Cunningham's in der Curzon Street. Schließlich, so sagte er sich, als er in die South Street einbog, war es aller Wahrscheinlichkeit nach auf einige Zeit hinaus sein letzter Lunch in London gewesen, und er glaubte Grund genug gehabt zu haben, diesen Anlaß zu feiern.
Im gleichen Augenblick bog eine aus dem schmiedeeisernen Portal des französischen Ministeriums des Innern kommende schwarze DS-19-Limousine in die Place Beauvau ein. Durch Zurufe seiner das Portal bewachenden Kollegen aufmerksam gemacht, stoppte der in der Mitte des Platzes postierte Polizist den aus den angrenzenden Straßen flutenden Verkehr und salutierte dann mit ruckartiger Geste.
Nach hundert Meter steuerte der Citroen auf den steingrauen Portikus vor dem Elysee-Palast zu. Auch hier hatten die diensttuenden Gendarmen vorsorglich den Verkehr angehalten, um der Limousine den zum Einbiegen in die enge Durchfahrt benötigten Platz zu sichern. Die Posten der Garde Republicaine, die zu beiden Seiten des Portals vor ihren Schilderhäuschen standen, legten grüßend die weißbehandschuhte Rechte an das Magazin ihrer Karabiner, als sie den Wagen des Ministers passieren ließen. Im inneren Torbogen sperrte eine locker gespannte Kette die Durchfahrt in den Vorhof des Palastes. Der diensttuende Inspektor — einer von Ducrets Leuten — schaute kurz in den Wagen und nickte dem Minister zu, der seinerseits ihm zunickte. Auf einen Wink des Inspektors wurde die Kette abgehängt. Sie fiel zu Boden, und der Citroen fuhr knirschend über sie hinweg. Jenseits des etwa vierzig bis fünfzig Meter breiten, mit braunem Kies bestreuten Hofs erhob sich die Fassade des Palastes. Robert, der Chauffeur des Innenministers, lenkte den Wagen nach rechts und fuhr ihn im
Gegenuhrzeigersinn um den Hof herum vor die sechs Granitstufen, die zum Eingang hinaufführten.
Einer der beiden befrackten und mit silbernen Ketten behängten Palastdiener öffnete die Tür. Roger Frey eilte die Stufen hinauf und wurde an der Spiegelglastür vom dienstältesten Kammerdiener empfangen. Einen Augenblick lang mußte der Minister im Vestibül unter dem an einer langen goldenen Kette von der gewölbten Decke herabhängenden Kronleuchter warten, während der Diener seine Ankunft über das links der Tür auf einem Marmortisch stehende Haustelephon dem diensthabenden Offizier meldete. Als er den Hörer auflegte, lächelte er dem Minister kurz zu und schritt ihm in seinem gewohnten, würdevoll gemessenen Tempo über die teppichbedeckten Granitstufen voran. Im ersten Stock überquerten sie den kurzen, breiten Treppenabsatz, von dem aus sich das Vestibül überblicken ließ, und blieben vor einer Tür zur Linken des Treppenabsatzes stehen. Der Diener klopfte leise. Auf das gedämpft vernehmbare »Entrez« hin öffnete er die Tür und trat zurück, um den Minister in den Salon des Ordonnances eintreten zu lassen. Dann schloß er geräuschlos die Tür und begab sich gemächlichen Schrittes wieder treppabwärts in das Vestibül zurück.
Durch die großen Südfenster auf der gegenüberliegenden Seite des Salons flutete Sonnenlicht herein und badete den Teppich in warmem Gold. Eines der vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster stand offen, und aus dem Park des Palastes war das Gurren einer Waldtaube zu hören. Der Lärm des Verkehrs auf den keine fünfhundert Meter entfernten, durch mächtige Linden und Buchen dem Blick jedoch gänzlich entzogenen Champs Elysees war zu einem bloßen Murmeln gedämpft und kaum lauter als die gurrende Taube. Wie immer, wenn er sich in einem der nach Süden gelegenen Räume des Elysee-Palastes aufhielt, hatte Roger Frey, der in» der Großstadt geboren und aufgewachsen war, das Gefühl, er befände sich in einem irgendwo im Herzen des Landes versteckten Schloß. Der tosende Verkehr der rue Faubourg St-Honore zur anderen Seite des Palastes war nur mehr eine Erinnerung. Diensthabender Offizier war an diesem Tag Oberst Tesseire. Er erhob sich hinter seinem Schreibtisch.
«Monsieur le Ministre… «
«Colonel…« Frey deutete mit einer Kopfbewegung nach links auf die geschlossenen Doppeltüren mit den vergoldeten Türgriffen.»Werde ich erwartet?«
«Aber selbstverständlich, Monsieur le Ministre.« Tesseire durchquerte den Raum, klopfte kurz an einer der Doppeltüren, öffnete sie und blieb auf der Schwelle stehen.
«Der Minister des Inneren, Monsieur le President. «
Gedämpft waren Laute der Zustimmung von drinnen zu hören. Tesseire trat einen Schritt zurück, lächelte dem Minister zu, und Roger Frey ging an ihm vorbei in Charles deGaulles privates Arbeitszimmer. In diesem Raum, das hatte er stets empfunden, gab es nichts, was nicht auf irgendeine Weise etwas über den Mann aussagte, der die Dekoration und das Mobiliar selbst ausgesucht hatte. Rechter Hand befanden sich die drei hohen, eleganten Fenster, die wie diejenigen des Salon des Ordonnances auf den Garten hinausgingen. Im Studio war ebenfalls eines von ihnen geöffnet, und auch hier war wieder das Gurren der Taube hörbar.
Irgendwo unter diesen Linden und Buchen waren Männer postiert, die Maschinenpistolen trugen, mit denen sie aus einer Pik-As-Karte noch im Schlaf aus zwanzig Meter Entfernung das As herausschießen konnten. Aber wehe demjenigen unter ihnen, der sich von den Fenstern des ersten Stocks aus sehen ließ. Im und um den Palast herum war der Zorn sprichwörtlich, mit dem der Mann, den sie im Ernstfall fanatisch verteidigen würden, auf jedwede zu seinem Schutz getroffene Maßnahme reagierte, die ihm zu Ohren kam oder sein Privatleben zu beeinträchtigen drohte. Das war das schwerste Kreuz, das Ducret zu tragen hatte, und niemand beneidete ihn um die Aufgabe, einen Mann zu schützen, der jede Form von persönlichem Schutz als seiner unwürdig und daher unzumutbar empfand.