Vor die Wand mit den verglasten Bücherregalen zur Linken war ein Louis-XV-Tisch gerückt, auf welchem eine Louis-XIV-Uhr stand. Den Boden bedeckte ein Savonnerie-Teppich, der aus der königlichen Teppichweberei in Chaillot stammte und über dreihundert Jahre alt war. Die Weberei, hatte ihm der Präsident einmal erklärt, war ehedem eine Seifenfabrik gewesen, und auf diesen Umstand sei der Name zurückzuführen, den die dort hergestellten Teppiche seither trugen. Es gab nichts in diesem Raum, was nicht einfach, nichts, was nicht würdig und geschmackvoll war, und vor allem nichts, was nicht die Größe Frankreichs illustrierte. Und das, so meinte Roger Frey, schloß auch den Mann hinter dem Schreibtisch ein, der sich jetzt erhob, um ihn mit der ihm eigenen ausgesuchten Höflichkeit zu begrüßen.
Dem Minister fiel wieder ein, daß Harold King, Wortführer der in Paris akkreditierten britischen Journalisten und einziger zeitgenössischer Angelsachse, der sich zu den persönlichen Freunden Charles de Gaulles zählen durfte, ihm gegenüber einmal bemerkt hatte, seinen persönlichen Eigenarten und Angewohnheiten nach gehöre der Präsident nicht ins zwanzigste, sondern ins achtzehnte Jahrhundert. Seither hatte er jedesmal, wenn er seines Herrn und Meisters ansichtig wurde, vergeblich versucht, sich eine hochgewachsene Gestalt in Seide und Brokat vorzustellen, die dieselben Gesten zeremonieller Höflichkeit vollführte. Die Gedankenverbindung leuchtete ihm wohl ein, aber die anschauliche Vorstellung entzog sich ihm. Zudem konnte er die wenigen Male nicht vergessen, wo sich der Große Alte Mann, zornig wegen irgendeines Vorkommnisses, das sein Mißfallen erregt hatte, eines Kasernenhofjargons von derart kraftvoller Drastik bedient hatte, daß die Mitglieder seines Kabinetts vor Verblüffung sprachlos waren.
Wie Roger Frey sehr wohl wußte, gehörte die Frage, welche Maßnahmen er als der für die Sicherheit der Institutionen Frankreichs und damit auch und vor allem für die des Präsidenten verantwortliche Minister treffen zu müssen glaubte, zu den Themen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eine solche Reaktion hervorriefen. Sie hatten über diese Frage nie offen miteinander gesprochen, und vieles, was Frey in jener Hinsicht anordnete, mußte heimlich ausgeführt werden. Wenn er an das Dossier dachte, das er in der Aktenmappe trug, und an das Ansuchen, das er dem Präsidenten würde vortragen müssen, bekam er es fast mit der Angst zu tun. »Mon cher Frey.« Die hochgewachsene, dunkelgrau gekleidete Gestalt war hinter dem großen Schreibtisch hervorgetreten. Zur Begrüßung wurden beide Hände ausgestreckt. »Monsieur le President, mes respects. « Er schüttelte die ihm gereichte Hand. Zumindest schien Le Vieux guter Laune zu sein. Frey wurde zu einem der beiden mit Beauvais-Tapisserie bespannten Empirestühle geleitet, die vor dem Schreibtisch standen. Nachdem er seiner Pflicht als Hausherr dem Gast gegenüber in so liebenswürdiger Weise genügt hatte, kehrte Charles de Gaulle hinter den Schreibtisch zurück und nahm dort Platz. Mit den Fingerspitzen beider Hände das polierte Holz der Schreibtischplatte berührend, lehnte er sich zurück.
«Ich höre, mein lieber Frey, daß Sie mich in einer dringenden Angelegenheit sprechen wollen. Nun, was haben Sie mir zu sagen?«
Roger Frey holte tief Luft. Der Tatsache wohl bewußt, daß de Gaulle langatmige Reden, sofern sie nicht von ihm selbst stammten, nicht schätzte, erklärte er kurz und bündig, weshalb er gekommen war. Während er sprach, wurde die Haltung des ihm gegenübersitzenden Mannes immer abweisender. Er lehnte sich weiter und weiter zurück, schien zusehends größer zu werden und blickte dabei an seiner alles beherrschenden Nase entlang zu dem Minister hinüber, als sei eine unangenehme Substanz von einem bislang geschätzten Diener in sein Arbeitszimmer eingeschleppt worden. Roger Frey war sich jedoch bewußt, daß sein Gesicht für den Präsidenten, der seine Kurzsichtigkeit bei öffentlichen Gelegenheiten zu verbergen pflegte, indem er — es sei denn, er las eine Rede ab — grundsätzlich keine Brille trug, schon aus der Entfernung von zweieinhalb Meter nur noch ein verschwommener Fleck sein konnte.
Der Innenminister beendete seinen Monolog, der kaum länger als eine Minute gedauert hatte, indem er Rollands und Ducrets Kommentare erwähnte, und schloß mit der Bemerkung:»Ich habe den Bericht von Rolland in meiner Aktenmappe.«
Über den Tisch hinweg streckte der Präsident stumm seinen Arm danach aus. Frey holte den Bericht hervor und reichte ihn hinüber.
Charles de Gaulle nahm die Lesebrille aus der Brusttasche seines Anzugs, setzte sie sich auf die Nase, schlug das Dossier auf und begann zu lesen. Als habe sie gemerkt, daß dies nicht der rechte Augenblick sei, hatte die Taube aufgehört zu gurren. Roger Frey blickte auf die Bäume hinaus, dann auf die für elektrisches Licht umgearbeitete Tischlampe aus Messing, die neben dem Tintenlöscher auf dem Schreibtisch stand. Es war eine kostbare Flam-beau-de-Vermeil-Lampe aus der Restaurationszeit. Tausende von Stunden lang hatte sie in den fünf Jahren der Präsidentschaft de Gaulles die Staatsdokumente erhellt, die über diesen Schreibtisch gewandert waren.
General de Gaulle las ungemein rasch. Er hatte die Lektüre des Rolland-Berichts in drei Minuten beendet, faltete ihn sorgsam zusammen, legte die Hände übereinander und fragte:»Nun, mein lieber Frey, was erwarten Sie von mir?«
Zum zweitenmal holte Roger Frey tief Luft und stürzte sich in eine rasche Aufzählung der Maßnahmen, die er zu treffen beabsichtigte. Zweimal benutzte er die Wendung:»Meiner Auffassung nach, Monsieur le President, wird es zur Abwendung dieser Gefahr unumgänglich sein…«In der dreiunddreißigsten Sekunde seines Vortrags verwendete er die Floskeclass="underline" »Im Interesse Frankreichs…«
Weiter kam er nicht. Der Präsident schnitt ihm das Wort ab.»Im Interesse Frankreichs, mein lieber Frey, kann es gewiß nicht liegen, den Präsidenten der Republik vor der Drohung eines jämmerlichen Mietlings zurückweichen zu sehen, der«- er machte eine Pause, in der seine Verachtung für den unbekannten Attentäter den Raum zu füllen schien —»noch dazu ein Ausländer ist.«
Roger Frey begriff, daß er verloren hatte. Wie jemand, der Wert darauf legt, beim Zuhörer keinerlei Zweifel über den von ihm vertretenen Standpunkt aufkommen zu lassen, sprach der Präsident, ohne sich — wie Frey befürchtet hatte — zu erregen, klar und unmißverständlich. Einzelne Wendungen drangen bis zu Oberst Tes-seire, der bei geöffnetem Fenster im benachbarten Raum saß:
«La France ne saurait accepter… la dignite et la grandeur assujetties aux miserables menaces d'un… d'un CHACAL…«
Zwei Minuten später verließ Roger Frey den Präsidenten. Er nickte Oberst Tesseire zu, durchquerte den Salon des Ordonnances und ging die Treppe zum Vestibül hinunter.
Dieser Mann — dachte der Diener, der den Minister über die Steinstufen zum wartenden Citroen geleitete und dem davonfahrenden Wegen nachblickte — hat Sorgen. Was Le Vieux wohl von ihm gewollt haben mag? — Da er jedoch seinen Dienst bereits seit zwanzig Jahren im Elysee-Palast verrichtete, blieb sein Gesicht so reglos und unwandelbar wie dessen Fassade.»Nein, so geht das nicht. Der Präsident war in diesem Punkt absolut unnachgiebig. «Roger Frey wandte den Blick vom Fenster seines Arbeitszimmers weg, um ihn auf den Mann zu richten, dem seine Bemerkung galt. Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem Elysee-Palast hatte er seinen chef de cabinet — den Chef seines persönlichen Stabes — zu sich bestellt. Alexandre Sanguinetti war Korse und ebenfalls ein fanatischer Anhänger de Gaulles. Als der Mann, dem in den vergangenen zwei Jahren ein Großteil der mit der Überwachung und Leitung der französischen Sicherheitskräfte verbundenen Detailarbeit vom Innenminister delegiert worden war, hatte er sich einen Ruf erworben, der entsprechend der jeweiligen politischen Auffassung des Beurteilers wie auch seiner Einstellung zu den staatsbürgerlichen Rechten sehr unterschiedlich interpretiert wurde. Bei der extremen Linken war er wegen der kurzentschlossen von ihm angeordneten Mobilisierung der CRS-Anti-Aufruhr-Kommandos und der brutalen Kampfmethoden verhaßt und gefürchtet, die diese 45 000 paramilitärischen Schläger anwendeten, sobald sie sich einer Straßendemonstration gegenübergestellt sahen.