Die Kommunisten nannten ihn möglicherweise deswegen einen Faschisten, weil gewisse Praktiken, mit denen es ihm gelungen war, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, an diejenigen erinnerten, welche sich jenseits des Eisernen Vorhangs im Paradies der Werktätigen bewährt hatten. Die extreme Rechte haßte ihn nicht weniger. Sie bediente sich ihrerseits der gleichen Argumente der Unterdrückung von Demokratie und Freiheit wie die Kommunisten — dies vermutlich jedoch nur deswegen, weil die Wirksamkeit seiner rigorosen Maßnahmen den Zusammenbrach von Gesetz und Ordnung verhindert hatte, der ihr als willkommener Vorwand für einen auf die Wiederherstellung eben dieser Ordnung abzielenden Putsch von rechts gedient haben würde.
Und die breite Öffentlichkeit lehnte ihn ab, weil sie von den drakonischen Maßnahmen, die in seinem Amt beschlossen worden waren — Straßensperren, Ausweiskontrollen an allen wichtigen Straßenkreuzungen und die brutale Niederknüppelung jugendlicher Demonstranten durch die Schlagstöcke der CRS, wie sie auf zahllosen in der Presse veröffentlichten Photos dokumentarisch festgehalten worden war — unmittelbar betroffen wurde. Die Presse hatte ihn bereits zum »Monsieur Anti-OAS« gestempelt und verunglimpfte ihn mit Ausnahme der wenigen gaullistischen Blätter aufs massivste.
Wenn der Ruf, der bestgehaßte Mann Frankreichs zu sein, ihn beunruhigte, so verstand er es doch, sich dies nicht anmerken zu lassen. Die Gottheit seiner privaten Religion residierte im Elysee-Palast, und in dieser Religion fungierte Alexander Sanguinetti als leitender Kopf der Kurie. Er blickte finster auf die Schreibunterlage vor ihm, auf welcher der den RollandBericht enthaltende Aktenordner lag.
«Das ist unmöglich. Unmöglich. Er ist unmöglich. Wir müssen sein Leben schützen, und er läßt uns nicht. Ich könnte diesen Mann dingfest machen, diesen Schakal. Aber Sie sagen mir, wir dürfen keine Gegenmaßnahmen treffen. Was sollen wir tun? Darauf warten, daß er losschlägt? Bloß herumsitzen und warten?«
Der Minister seufzte. Er hatte von seinem chef de cabinet keine andere Reaktion erwartet, aber das machte ihm die Aufgabe nicht leichter. Er setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch.
«Hören Sie, Alexandre. Erstens steht es noch nicht absolut fest, ob der Rolland-Bericht zutrifft. Es handelt sich lediglich um seine eigene Auswertung der wirren Reden dieses — Kowalsky, der inzwischen verstorben ist. Vielleicht täuscht Rolland sich. Die Ermittlungen in Wien sind noch nicht abgeschlossen. Ich habe deswegen mit Gibaud gesprochen, und er erwartet den Bescheid für heute abend. Aber man muß zugeben, daß es unrealistisch wäre, zu diesem Zeitpunkt im ganzen Land Jagd auf einen Ausländer machen zu wollen, von dem uns nur der Deckname bekannt ist. Abgesehen davon handelt es sich um seine Weisung — nein, seine strikte Order. Ich wiederhole sie, damit hierüber bei keinem von uns irgendwelche Unklarheiten herrschen. Die Sache darf unter keinen Umständen publik werden, es darf keine Großfahndung stattfinden, und außerhalb unseres engsten Mitarbeiterkreises darf keinerlei Andeutung darüber gemacht werden, daß Gefahr im Verzug ist. Der Präsident ist der Meinung, daß die Presse, sofern wir ihr gegenüber auch nur das Geringste verlauten ließen, dies als gefundenes Fressen betrachten, die Weltöffentlichkeit hämisch reagieren und jede zusätzliche Sicherheitsmaßnahme, die wir treffen, sowohl hier als auch außerhalb unseres Landes nur als ein unwürdiges Schauspiel auffassen würde, in dem der Präsident der Republik Frankreich sich vor einem einzelnen Mann — und noch dazu einem Ausländer — zu verstecken sucht. Genau dies aber wird er unter keinen Umständen — ich wiederhole: unter keinen Umständen! — zulassen. Tatsächlich«- der Minister unterstrich ' mit erhobenem Zeigefinger die Bedeutung dieses Punktes —»hat er mir deutlich zu verstehen gegeben, daß Köpfe rollen würden, falls durch unsere Behandlung der Angelegenheit irgendwelche Einzelheiten bekanntwerden oder auch nur vage Andeutungen an die Öffentlichkeit dringen sollten. Glauben Sie mir, eher ami, ich habe ihn kaum je so unzugänglich gesehen.«
«Aber das Veranstaltungsprogramm«, protestierte Sanguinetti,»muß auf jeden Fall abgeändert werden. Er darf nicht mehr in der Öffentlichkeit erscheinen, bis der Mann gefaßt ist. Er muß unbedingt…«
«Er wird nichts absagen. Programmänderungen sind ganz ausgeschlossen, auch solche um eine Stunde oder auch nur um eine Minute. Die ganze Angelegenheit muß unter absoluter Geheimhaltung gehandhabt werden.«
Zum erstenmal seit der Aufdeckung der Verschwörung in der Ecole Militaire im Februar, die zur Verhaftung und Verurteilung der Beteiligten geführt hatte, fühlte sich Alexandre Sanguinetti wieder auf den Punkt zurückgeworfen, von dem er ausgegangen war. In den letzten beiden Monaten hatte er bei der Bekämpfung der Bankraub- und Einbruchwelle schon geglaubt, daß das Schlimmste überstanden sei. Die Auflösungserscheinungen, die der OAS-Apparat unter der doppelten Einwirkung des Aktionsdienstes von innen und der Polizei- und CRS-Kräfte von außen zu zeigen begann, hatten ihn zu dem vorschnellen Schluß verleitet, die Raubüberfälle stellten nichts anderes als die letzten Zuckungen der Geheimarmee dar, bei denen eine Handvoll noch nicht dingfest gemachter Strolche und Abenteurer sich noch einmal austobte, um sich die nötigen Gelder für ein lebenslanges Exil zu verschaffen.
Aber die letzte Seite von Hollands Bericht machte deutlich, daß die ungezählten Doppelagenten, die Rolland in die OAS hatte einschleusen können, wo es ihnen gelungen war, in die höchsten Dienstränge aufzusteigen, durch die Anonymität des Mörders außer Gefecht gesetzt worden waren. Und infolge der simplen Tatsache, daß der Schakal Ausländer war, waren auch die von den Sicherheitsbehörden geführten Karteien über alle einer bestehenden oder früheren Verbindung zur OAS verdächtigten Staatsbürger nutzlos.
«Was sollen wir denn tun, wenn es uns nicht erlaubt ist zu handeln?«
«Ich habe nicht gesagt, daß es uns verboten sei zu handeln«, verbesserte Frey ihn.»Ich sagte lediglich, wir dürfen nicht in aller Öffentlichkeit handeln. Die ganze Sache muß geheim bleiben und entsprechend gehandhabt werden. Es gibt also nur eine einzige Möglichkeit für uns: Die Identität des Mörders muß durch geheimzuhaltende Erkundigungen ermittelt, er selbst, wo immer er sich aufhält — sei es in Frankreich oder außerhalb des Landes —, aufgespürt und dann sofort unschädlich gemacht werden.«
«… und sofort unschädlich gemacht werden. Das, meine Herren, ist der einzige Weg, den wir beschreiten können.«
Der Minister des Inneren überblickte die im Beratungsraum seines Ministeriums tagende Versammlung, um die volle Bedeutung seiner Worte auf sie einwirken zu lassen. Er selbst mitgezählt, waren insgesamt vierzehn Männer um den Konferenztisch versammelt.
Der Minister stand am oberen Ende des Tisches. Neben ihm zu seiner Rechten saß sein chef de cabinet, zu seiner Linken der Polizeipräfekt, die oberste politische Instanz der Polizeikräfte Frankreichs.