«Der Schutz des Präsidenten der Republik«, verkündete Saint Clair großsprecherisch,»muß zuletzt, wenn alle anderen versagt haben, der persönlichen Sicherungsgruppe des Präsidenten und seinem engsten Stab obliegen. Wir werden unsere Pflicht zu tun wissen, das versichere ich Ihnen, Herr Minister.«
Kommissar Ducret warf dem Obersten einen Blick zu, der ihn, wenn er hätte töten können, leblos vom Stuhl hätte sinken lassen.»Weiß er denn nicht, daß Le Vieux ihn gar nicht hört?«brummelte Guibaud Rolland zu.
Roger Frey hob den Blick, um dem Höfling aus dem Elysee-Palast in die Augen zu sehen, und demonstrierte, warum er Minister war.»Der Oberst Saint Clair hat natürlich vollkommen recht«, erklärte er.»Wir alle werden unsere Pflicht tun. Und ich bin mir ganz sicher, der Oberst ist sich darüber im klaren, daß den verantwortlichen Leiter der Abteilung, die mit der Zerschlagung der Verschwörung beauftragt wird und ihre Aufgabe nicht erfüllt oder bei der Ausführung ihres Auftrags Methoden anwendet, die entgegen dem ausdrücklichen Wunsch des Präsidenten in der Öffentlichkeit Aufsehen erregen, schärfste Mißbilligung treffen wird. «Die Drohung schwebte geballter über dem langen Konferenztisch als der blaue Rauch aus Bouviers Pfeife. Saint Clairs schmales, blasses Gesicht war noch blasser geworden, und seinen Augen war Beunruhigung anzusehen.
«Wir alle hier sind uns der begrenzten Möglichkeiten der Sicherungsgruppe des Präsidenten bewußt«, stellte Kommissar Ducret nüchtern fest.»Wir versehen unseren Dienst in der unmittelbaren Umgebung des Präsidenten. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß die gestellte Aufgabe viel zu weitreichend ist, als daß sie von meinem Stab ohne Vernachlässigung seiner regulären Pflichten wahrgenommen werden könnte.«
Niemand widersprach, denn jeder der anwesenden Abteilungsleiter wußte, daß der Chef der Sicherungsgruppe die Wahrheit ausgesprochen hatte. Aber auch keiner von ihnen wünschte seinerseits das Auge des Ministers auf sich zu ziehen. Roger Frey sah in die Runde und ließ den Blick schließlich auf der rauchverhüllten massigen Gestalt Kommissar Bouviers am unteren Ende des Tisches ruhen.
«Was meinen Sie, Bouvier? Sie haben sich noch nicht geäußert.«
Der Detektiv nahm die Pfeife aus dem Mund, brachte es fertig, einen letzten übelriechenden Schwaden beizenden Rauchs direkt in Oberst Saint Clairs Gesicht wehen zu lassen und begann mit ruhiger Stimme wie jemand zu sprechen, der ein paar simple Fakten aufzählt, die ihm gerade durch den Kopf gegangen sind.
«Herr Minister, der SDECE kann diesen Mann nicht durch seine Agenten in der OAS ausfindig machen, weil ja nicht einmal die OAS weiß, wer er ist. Der Aktionsdienst kann ihn nicht unschädlich machen, weil er nicht weiß, wen er unschädlich machen soll. Die DST kann ihn nicht an der Grenze festnehmen, weil sie nicht weiß, welche Person sie abfangen soll. Und die RG können uns keine dokumentarische Information über diesen Mann liefern, weil sie keine Ahnung haben, nach welchen Dokumenten sie suchen sollen. Die Polizei kann ihn nicht festnehmen, weil sie nicht weiß, wen sie festnehmen soll, und das CRS kann ihn nicht jagen, weil es keinen Schimmer hat, wen es jagen soll. Die gesamte Organisation der Sicherheitskräfte Frankreichs ist machtlos, weil ihr ganz einfach ein Name fehlt. Mir scheint daher, daß die erste Aufgabe, ohne deren Lösung alle anderen Vorschläge sinnlos bleiben, darin zu bestehen hat, diesem Mann einen Namen zu geben. Mit einem Namen bekommt er ein Gesicht und mit dem Gesicht einen Paß, und mit einem Paß können wir ihn dingfest machen. Aber den Namen herauszubekommen, und das unter strikter Geheimhaltung, ist reine Detektivarbeit.«
Er verstummte wieder und klemmte sich neuerlich die Pfeife zwischen die Zähne. Was er gesagt hatte, stimmte jeden der an dem Konferenztisch sitzenden Männer nachdenklich. Keiner vermochte begründete Einwände dagegen zu erheben. Sanguinetti nickte stumm.»Und wer, Kommissar, ist der beste Detektiv in Frankreich?«fragte der Minister schließlich. Bouvier überlegte ein paar Sekunden lang und nahm dann die Pfeife wieder aus dem Mund. »Messieurs, der beste Detektiv Frankreichs ist mein eigener Stellvertreter, Kommissar Claude Lebel.«
«Lassen Sie ihn holen«, sagte der Minister des Inneren.
ZEHNTES KAPITEL
Verwirrt und bestürzt verließ Claude Lebel eine Stunde später den Konferenzraum. Fünfzig Minuten lang hatte er ununterbrochen zugehört, während der Minister ihn über die vor ihm liegende Aufgabe unterrichtete.
Bei seinem Eintreten war er gebeten worden, am unteren Ende des Konferenztisches Platz zu nehmen, und hatte sich zwischen den Chef des CRS und seinen eigenen Chef Bouvier gesetzt. Während er den Rolland-Bericht las, hatten die anderen vierzehn Männer geschwiegen, und er war sich der abschätzenden Blicke, die ihn neugierig musterten, bewußt gewesen.
Als er den Bericht aus der Hand legte, begann die Frage, warum sie ihn hatten rufen lassen, ihn zu beunruhigen. Dann sprach der Minister. Es ging weder um eine Konsultation noch um irgendein Ansuchen. Es war eine Verfügung, der eine wortreiche Einweisung folgte. Er könne ein eigenes Büro einrichten; er erhalte uneingeschränkten Zugang zu allen erforderlichen Informationen; ihm ständen die gesamten Hilfsmittel aller Organisationen zur Verfügung, die von den an diesem Tisch sitzenden Männern geleitet wurden. Eine Limitierung für die entstehenden Kosten sei nicht vorgesehen.
Mehrfach wurde die Notwendigkeit absoluter Geheimhaltung, wie sie das Staatsoberhaupt befohlen hatte, hervorgehoben. Lebel hörte zu, und ihm sank der Mut. Sie erwarteten — nein, verlangten — das Unmögliche. Er hatte nichts, wovon er hätte ausgehen können. Es gab kein Verbrechen — noch nicht. Es gab keine Spuren, keine Hinweise. Und abgesehen von den drei Männern, mit denen er nicht sprechen konnte, gab es auch keine Zeugen. Es gab nur einen Namen, einen Decknamen, und die ganze Welt, die er nach diesem Mann absuchen konnte. Claude Lebel war immer ein guter Polizeibeamter gewesen, gewissenhaft, besonnen und in seiner Arbeitsweise von methodischer Gründlichkeit. Nur gelegentlich hatte er die blitzartige Inspiration gezeigt, die aus einem guten Polizisten einen hervorragenden Detektiv macht. Dabei war er sich jedoch stets der Tatsache bewußt geblieben, daß neunundneunzig Prozent aller Polizeiarbeit Routine sind und aus unauffällig betriebener Ermittlungstätigkeit, aus Recherchieren, Überprüfen und Gegenprüfen, aus dem geduldigen Verknüpfen einzelner Maschen eines Netzes bestehen, in dem sich der Verbrecher fängt und verstrickt.
In der PJ war er als verbissener Arbeiter bekannt, der für seine Person jegliche Publicity ablehnte und nie Pressekonferenzen von jener Art gegeben hatte, auf der der Ruf mancher seiner Kollegen basierte. Und doch war er, indem er seine Fälle löste und seine Täter überführte, stetig aufgestiegen. Als vor drei Jahren bei der Brigade Criminelle die Stelle des Leiters der Mordkommission frei wurde, stimmten selbst seine ebenfalls zur Beförderung anstehenden Kollegen darin überein, daß er der geeignetste Mann war. Er konnte auf eine gleichbleibend erfolgreiche Tätigkeit bei der Mordkommission verweisen, als deren Leiter er drei Jahre hindurch keine einzige Festnahme veranlaßte, die nicht zu einer Verurteilung führte, wenngleich in einem Fall der Angeklagte aus formaljuristischen Gründen freikam.
Als Leiter der Mordkommission erregte er die Aufmerksamkeit Maurice Bouviers, der Chef der gesamten Brigade und ebenfalls ein Polizeibeamter alter Schule war. Als Dupuy vor wenigen Wochen plötzlich verstarb, war es daher Lebel, den Bouvier als seinen neuen Stellvertreter vorschlug.
Es hatte in der PJ zwar Stimmen gegeben, die behaupteten, daß Bouvier, dessen Zeit weitgehend von administrativer Arbeit beansprucht wurde, einen publicityscheuen Kollegen zu schätzen wußte, der die großen, Schlagzeilen hervorrufenden Fälle handhaben konnte, ohne seinem Vorgesetzten die Show zu stehlen. Aber vielleicht urteilten sie zu hart.