«Aber vielleicht hören Sie mir dennoch zu, wenn ich Ihnen jetzt noch ein paar Einzelheiten nachliefere«, sagte Lebel.»Es wird vermutlich die letzte Gelegenheit sein, daß ich dazu die Zeit habe. «Dreißig Minuten lang berichtete er Caron von den Ereignissen des Nachmittags, von Roger Freys Unterredung mit dem Präsidenten und der Besprechung im Innenministerium. Er erwähnte die auf Bouviers Empfehlung unvermittelt an ihn ergangene Aufforderung, alles stehen- und liegenzulassen und sich sofort im Ministerium einzufinden, und schilderte, wie es zu der Weisung des Ministers gekommen war, eine eigene Befehlszentrale für die Jagd auf den Schakal einzurichten. Caron lauschte schweigend.»Verdammt«, sagte er schließlich, als Lebel endete,»die haben Sie aber ganz schön dränge kriegt. «Er dachte einen Augenblick nach, und der Blick, mit dem er seinen Chef ansah, verriet Anteilnahme und Besorgnis. »Mon commissaire, sehen Sie denn nicht, daß die Ihnen diese Sache nur aufgehalst haben, weil kein anderer sie übernehmen wollte? Wissen Sie, was die mit Ihnen machen werden, wenn Sie diesen Mann nicht rechtzeitig fassen?«Lebel nickte.»Ja, Lucien, das weiß ich. Ich kann nichts dagegen machen. Die
Sache ist mir nun einmal übertragen worden. Es bleibt jetzt also gar nichts anderes übrig, als zu tun, was man von uns erwartet.«»Aber wovon, zum Teufel, können wir denn überhaupt ausgehen?«
«Wir können davon ausgehen, daß wir die größten Machtbefugnisse haben, die je zwei Polizisten in Frankreich zugestanden worden sind«, entgegnete Lebel aufgeräumt,»und wir werden sie benutzen. Installieren Sie sich mal gleich an dem Tisch da drüben, nehmen Sie Papier und Bleistift zur Hand und notieren Sie folgendes: Sorgen Sie dafür, daß meine Sekretärin vorübergehend in eine andere Abteilung versetzt wird oder bis auf weiteres bezahlten Urlaub bekommt. Sie werden mein Assistent und Sekretär in einer Person sein müssen. Lassen Sie ein Feldbett, Bettwäsche, Kissen und Decken heraufschaffen. Besorgen Sie Wasch- und Rasierzeug, Kaffee, Zucker, Milch und einen Filterapparat aus der Kantine. Wir werden eine Menge Kaffee benötigen. Verständigen Sie die Telephonzentrale, daß sie zehn Amtsleitungen und einen Mann in der Vermittlung ständig zu unserer Verfügung halten muß. Berufen Sie sich auf Bouvier, wenn die Leute Schwierigkeiten machen sollten. Wenden Sie sich wegen der anderen Anforderungen immer gleich an den betreffenden Abteilungsleiter und beziehen Sie sich auf mich. Zum Glück hat unser Büro ab sofort auch bei den sonstigen Ausrüstungsdienststellen kraft Sondererlaß Vorrang gegenüber allen anderen Diensten. Setzen Sie ein Rundschreiben an alle Abteilungsleiter auf, die bei der heutigen Sitzung im Ministerium anwesend waren, und erklären Sie ihnen, daß Sie zu meinem einzigen Assistenten ernannt und bevollmächtigt worden seien, in meinem Namen mit jeder Bitte an sie heranzutreten, die ich, wenn ich nicht verhindert wäre, selbst geäußert hätte. Haben Sie das?«
Caron blickte von seinen Notizen auf.»Ja, Chef. Das Rundschreiben kann ich heute nacht entwerfen. Was ist das Vordringlichste?«
«Die Telephonvermittlung. Ich brauche einen guten Mann, der das übernimmt — den besten, den sie haben. Rufen Sie den Verwaltungschef in seiner Wohnung an und beziehen Sie sich auch ihm gegenüber auf Bouvier.«
«In Ordnung. Welche Gespräche kommen zuerst dran?«»Sie müssen mich, so schnell Sie können, mit den Chefs der Mordkommissionen von sieben verschiedenen Ländern verbinden. Glücklicherweise kenne ich die meisten persönlich von den Interpol-Sitzungen her. In manchen Fällen kenne ich ihre Stellvertreter. Verlangen Sie also jeweils den zweiten Mann, wenn Sie seinen Chef nicht bekommen. Die Länder sind die Vereinigten Staaten, das heißt die Mordkommission des FBI in Washington, ferner Großbritannien, Belgien, Holland, Italien, Westdeutschland, Südafrika. Wen Sie nicht im Büro erreichen, den rufen Sie zu Hause an. Vereinbaren Sie eine Serie von Gesprächen, die ich vom Interpol-Kommunikationsraum aus zwischen 7 und 10 Uhr morgens in Abständen von zwanzig Minuten führen werde. Lassen Sie sich mit jedem von ihnen, sobald Sie die persönliche Zusage eines Mordkommissionschefs, daß er sich zur vereinbarten Zeit in seiner Kommunikationszentrale aufhalten wird, erhalten haben, mit Interpol verbinden und buchen Sie das Gespräch. Stellen Sie mir bis morgen früh um sechs eine Liste der vorgemerkten Gespräche in der geplanten Reihenfolge zusammen. Ich gehe inzwischen zur Mordkommission hinunter, um nachzusehen, ob jemals irgendein ausländischer Killer hier in Frankreich in Aktion getreten ist, ohne gefaßt worden zu sein. Ehrlich gesagt, ist mir kein solcher Fall erinnerlich, und ich müßte es ja schließlich wissen. Zudem nehme ich kaum an, daß Rodin eine so unvorsichtige Wahl getroffen haben wird. Ist Ihnen klar, was Sie zu tun haben?«
Ein wenig benommen dreinblickend, sah Caron von seinen auf mehreren Zetteln vermerkten Notizen auf.
«Ja, Chef, ich weiß Bescheid. Bon, dann wird es wohl Zeit, daß ich mich jetzt an die Arbeit mache. «Er griff nach dem Telephon.
Claude Lebel verließ sein Büro und ging zur Treppe. Die nahen Glocken von Notre-Dame schlugen Mitternacht, und in wenigen Stunden würde die Morgendämmerung des 12. August anbrechen.
ELFTES KAPITEL
Kurz vor Mitternacht kam Oberst Saint Clair de Villauban nach Hause. Die letzten drei Stunden hatte er damit verbracht, seinen Bericht über die Besprechung im Innenministerium, den der Generalsekretär anderntags schon am frühen Vormittag auf seinem Arbeitstisch vorfinden sollte, fein säuberlich auf der Maschine zu schreiben. Er hatte sich mit der Formulierung beträchtliche
Mühe gegeben und zwei Entwürfe zerrissen, bevor er daran ging, eigenhändig die Reinschrift der endgültigen Fassung zu tippen. Es irritierte ihn zwar, sich mit der ihm ungewohnten manuellen Tätigkeit des Maschineschreibens abgeben zu müssen, brachte aber den Vorteil mit sich, daß auf diese Weise keine Sekretärin etwas von dem Geheimnis erfuhr- ein Umstand, auf den im Hauptteil seines Berichts hinzuweisen er denn auch nicht versäumt hatte — und das Dokument zudem bereits in aller Frühe vorgelegt werden konnte, was, wie er hoffte, höheren Orts nicht unbemerkt bleiben würde. Mit einigem Glück konnte das Schriftstück schon eine Stunde, nachdem es der Generalsekretär gelesen hatte, auf dem Schreibtisch des Präsidenten liegen, und auch das würde ihm gewiß nicht zum Schaden gereichen.
Er war in der Wahl seiner Worte besonders sorgfältig verfahren, um seine Mißbilligung der Tatsache durchblicken zu lassen, daß eine so gravierende Angelegenheit wie die Sicherheit des Staatsoberhaupts in die Hände eines einzigen Polizeikommissars gelegt worden war, den Ausbildung und Erfahrung doch wohl eher zum Überführen kleiner Gauner und anderer Übeltäter prädestinierten, denen es an Verstand oder Talent oder auch an beidem mangelte.
Es wäre ungeschickt gewesen, allzu deutlich zu werden, denn womöglich fand Lebel seinen Mann sogar. Falls ihm dies jedoch nicht gelang, würde es sich gut ausnehmen, daß es jemanden gab, der alert genug gewesen war, die Klugheit der Wahl Lebels frühzeitig zu bezweifeln.
Während er über den ersten beiden Entwürfen brütete, die er handschriftlich notiert hatte, war er zu dem Schluß gekommen, daß die vorteilhafteste Taktik für ihn die sei, der Ernennung des avancierten Schutzmannes zunächst keinen offenen Widerstand entgegenzusetzen, da sich die Konferenzteilnehmer ohne Einspruch auf ihn geeinigt hatten und er stichhaltige Gründe nennen müßte, wenn er dagegen opponieren wollte, andererseits aber die ganze Unternehmung aus der Sicht und im Auftrag des Präsidialsekretariats aufmerksam zu verfolgen und auf Unzulänglichkeiten der Ermittlung, wann und in welchem Ausmaß auch immer sie sich zeigen sollten, als erster mit gebührendem Ernst hinzuweisen.
Seine Überlegungen, wie er sich am besten über Lebels Vorgehen auf dem laufenden halten könnte, wurden durch Sanguinettis Anruf unterbrochen, der ihn davon unterrichtete, daß der Minister beschlossen habe, unter seinem Vorsitz allabendlich bis auf weiteres Lagebesprechungen abzuhalten, um sich von Lebel über den Fortgang der Aktion informieren zu lassen. Saint Clair war über diese Nachricht hoch erfreut gewesen, hatte sie sein Problem doch für ihn gelöst. Mit einem in den Dienststunden spielend zu bewältigenden Minimalpensum an täglicher Vorbereitung würde er abends in der Lage sein, dem Detektiv unbequeme Fragen zu stellen und den anderen zu beweisen, daß man sich zumindest im Präsidialsekretariat des Ernstes wie der Gefahr der Lage vollauf bewußt war.