An diesem Morgen war der Schakal früh aufgestanden, denn er wollte die Vormittagsmaschine nach Brüssel nehmen. Am Abend zuvor hatte er die drei gepackten Koffer nochmals geöffnet und ihren Inhalt auf seine Vollständigkeit überprüft. Nur die Reisetasche war unverschlossen geblieben, weil sie noch seinen Waschbeutel und sein Rasierzeug aufnehmen sollte. Er trank wie immer zwei Tassen Kaffee, duschte und rasierte sich. Dann packte er die restlichen Toilettensachen in die Reisetasche, schloß sie und trug alle vier Gepäckstücke zur Tür.
In der kleinen, modern eingerichteten Küche bereitete er sich ein aus Orangensaft, Rühreiern und weiterem Kaffee bestehendes Frühstück, das er am Küchentisch verzehrte. Ordentlich und methodisch, wie er war, schüttete er die restliche Milch in den Ausguß, schlug die beiden übriggebliebenen Eier auf und leerte sie ebenfalls in den Ausguß. Die Orangendose warf er, nachdem er den letzten Saft ausgetrunken hatte, in den Abfalleimer, und die Eierschalen, der Kaffeesatz sowie der Brotrest wanderten in den Müllschlucker. Nichts von dem, was er zurückließ, würde in der Zeit seiner Abwesenheit verderben.
Schließlich zog er sich an, wobei er sich einen seidenen Sweater mit Rollkragen, den taubengrauen Anzug, in dessen Jackentasche er die auf den Namen Duggan ausgestellten Papiere sowie die 100 Pfund in bar steckte, dunkelgraue Socken und leichte schwarze Mokassins entschied. Die unvermeidliche dunkle Sonnenbrille vervollständigte das Ensemble. Um 9 Uhr 15 nahm er sein Gepäck auf, ließ die Tür hinter sich ins Schloß fallen und ging, in jeder Hand zwei Gepäckstücke, die Treppen hinunter. Bis zur Ecke Adams's Row und South Audley Street, wo er ein Taxi anhielt, waren es nur ein paar Schritte.
Als das Taxi anfuhr, begann in seiner Wohnung das Telephon zu klingeln.
Es war 10 Uhr, als der Legionär in das nahe der Via Condotti gelegene Hotel zurückkehrte, um Rodin zu melden, daß er dreißig Minuten lang versucht habe, mit der Londoner Nummer zu sprechen, aber niemand abgenommen hätte.
«Was gibt's denn?«erkundigte sich Casson, der die Erklärung des Legionärs mitangehört hatte. Die drei OAS-Bosse saßen im Salon ihrer Hotelsuite. Rodin zog ein Stück Papier aus der inneren Brusttasche und reichte es Casson.
Casson las es und reichte es Montclair weiter. Beide Männer sahen ihren Führer fragend an. Schweigend, mit nachdenklich zusammengezogenen Brauen, starrte Rodin zum Fenster hinaus auf die von gleißendem Sonnenlicht beschienenen Dächer Roms.
«Wann ist das gekommen?«fragte Casson schließlich.
«Heute morgen«, erwiderte Rodin.
«Sie müssen ihn stoppen«, verlangte Montclair.»Die werden halb Frankreich alarmiert haben.«
«Sie werden halb Frankreich wegen eines hochgewachsenen blonden Ausländers alarmiert haben«, bemerkte Rodin gelassen.»Im August halten sich über eine Million Ausländer in Frankreich auf. Soweit wir wissen, haben sie weder einen Namen noch ein Gesicht oder einen Paß, nach dem sie fahnden können. Als Fachmann, der er ist, wird er vermutlich falsche Papiere besitzen. Diehaben ihn noch lange nicht, und es besteht durchaus die Möglichkeit, daß er gewarnt wird, wenn er Valmy anruft. Dann wird er es schon noch schaffen, wieder herauszukommen.«
«Wenn er Valmy anruft, erhält er doch gewiß Anweisung, die Aktion abzubrechen«, meinte Montclair.»Valmy wird sie ihm geben. «Rodin schüttelte den Kopf.
«Dazu ist Valmy nicht befugt. Seine Weisung lautet, Informationen von dem Mädchen zu empfangen und sie dem Schakal weiterzugeben, wenn er von ihm angerufen wird. Genau das wird er tun, und nichts anderes.«
«Aber der Schakal muß sich ja selbst sagen können, daß alles vorbei ist«, wandte Montclair ein.»Sobald er Valmy angerufen hat, wird er machen, daß er aus Frankreich herauskommt.«»Theoretisch schon«, sagte Rodin nachdenklich.»Wenn er das tut, muß er das Geld zurückgeben. Für uns alle, aber auch für ihn, ist der Einsatz sehr hoch. Es hängt davon ab, wieweit er auf seinen eigenen Plan vertraut.«
«Halten Sie es für möglich, daß er noch eine Chance hat — jetzt, wo dies geschehen ist?«fragte Casson.
«Ehrlich gesagt, nein«, sagte Rodin.»Aber er ist ein Spezialist. In gewisser Weise bin ich das auch. Es ist eine Frage der Einstellung, die man hat oder nicht hat. Eine Aktion, die man bis ins letzte selbst geplant hat, bläst man nicht ohne weiteres ab.«
«Dann pfeifen Sie ihn doch, in Gottes Namen, zurück!«protestierte Casson.
«Das kann ich nicht«, erklärte Rodin.»Ich würde es tun, wenn ich könnte, aber ich kann es nicht. Er ist abgereist. Er ist schon auf dem Weg. Er hat es ja so gewollt, und genauso hat er es jetzt bekommen. Wir wissen nicht, wo er sich aufhält und wie er vorgehen will. Er ist ganz auf sich selbst gestellt. Ich kann noch nicht einmal Valmy anrufen und ihn anweisen, den Schakal zu instruieren, daß die ganze Sache abgeblasen ist. Ich würde Valmy gefährden, wenn ich das täte. Jetzt kann niemand den Schakal mehr aufhalten. Dazu ist es zu spät.«
ZWÖLFTES KAPITEL
Kurz vor 6 Uhr morgens war Kommissar Lebel wieder in seinem Büro, wo er Inspektor Caron vorfand, der, müde und überanstrengt aussehend, in Hemdsärmeln an seinem Schreibtisch saß. Vor ihm lag eine Anzahl Notizzettel, die mit handschriftlichen Vermerken bedeckt waren. Im Büro hatten gewisse Veränderungen stattgefunden. Auf dem halbhohen Karteischrank war eine Kaffeemaschine installiert, die das köstliche Aroma frisch gebrauten Kaffees verbreitete. Ein Turm ineinandergeschobener Pappbecher, eine Büchse mit Kondensmilch und eine Tüte Zucker standen griffbereit daneben. Diese Dinge waren noch im Lauf der Nacht aus der Kantine im Keller heraufgeschickt worden.
In der Ecke zwischen den beiden Schreibtischen war ein Feldbett aufgestellt, auf dem eine rauhe Wolldecke lag. Der Papierkorb war geleert und neben den Sessel an der Tür gestellt worden.
Das Fenster stand noch immer offen, und der blaue Dunst der unzähligen Zigaretten, die Caron geraucht hatte, trieb in die kühle Morgenluft hinaus. Jenseits des Flusses färbte das erste Licht des heraufkommenden Tages die Türme von St-Sulpice mit einem schwachen rosa Widerschein.
Lebel trat an seinen Schreibtisch und ließ sich in seinen Sessel fallen. Er war seit vierundzwanzig Stunden auf den Beinen und sah ebenso übermüdet aus wie Caron.
«Nichts«, sagte er.»Ich habe alles durchgesehen, was an Unterlagen über die letzten zehn Jahre vorhanden ist. Der einzige politische Killer aus dem Ausland, der jemals hier zu operieren versuchte, war Degueldre, und der ist tot. Wir hatten ihn in der Kartei, weil er zur OAS gehörte. Rodin wird vermutlich einen Mann ausgesucht haben, der mit der OAS nichts zu tun hat, und damit war er gut beraten. Von den einheimischen Sorten abgesehen, hat es in den letzten Jahren insgesamt nur vier auf Kontraktbasis arbeitende Berufsmörder gegeben, die in Frankreich ins Geschäft zu kommen versuchten, und drei davon haben wir. Der vierte sitzt irgendwo in Afrika lebenslänglich hinter Gittern. Im übrigen waren das allesamt Killer aus der Unterwelt. Das Format, den Präsidenten der Republik Frankreich aufs Korn zu nehmen, hatte keiner von denen. Ich habe mit Bargeron von der Zentralkartei gesprochen, und dort ist man bereits dabei, eine lückenlose Überprüfung zu veranstalten. Aber ich vermute schon jetzt, daß dieser Mann in unseren Akten nicht zu finden sein wird. Das hat Rodin bestimmt zur Bedingung gemacht, als er ihn engagierte.«
Caron steckte sich eine weitere Gauloise an, stieß den Rauch aus und seufzte.
«Dann müssen wir also von den ausländischen Polizeiarchiven ausgehen?«
«Genau das. Ein Mann seines Kalibers muß schließlich irgendwo Erfahrungen gesammelt und seine Meisterschaft erworben haben. Er würde kaum zur internationalen Spitze zählen, wenn er nicht auf eine Serie erfolgreich absolvierter Jobs verweisen könnte. Vielleicht keine Präsidenten, aber doch wichtige Männer, einflußreiche Figuren aus dem öffentlichen Leben und keine Unterweltbosse. Also muß irgendwo schon einmal irgendwer auf ihn aufmerksam geworden sein. Welche Anrufe haben Sie vorgemerkt?«