Der Schakal beglich die Rechnung und hinterließ ein generöses Trinkgeld. Er setzte sich in den Alfa und steuerte ihn durch den lebhaften Verkehr in nördlicher Richtung aus der Stadt hinaus.
Kommissar Lebel saß an seinem Schreibtisch und fühlte sich, als habe er in seinem ganzen Leben noch nie geschlafen und auch keine Aussicht mehr, es jemals zu tun. Auf dem Feldbett in der Ecke schnarchte Lucien Caron, der die ganze Nacht hindurch die mit der Überprüfung der eingegangenen Einreise- und Meldeformulare angelaufene Fahndung nach Charles Calthrop geleitet hatte. Bei Anbruch der Dämmerung war er von Lebel abgelöst worden.
Vor ihm auf der Schreibtischplatte stapelten sich jetzt die Berichte der diversen Dienste und Dienststellen, die mit der Registrierung nach Frankreich einreisender Ausländer beauftragt waren. Die Meldungen lauteten allesamt gleich. Seit Beginn des Jahres hatte kein Mann dieses Namens die Grenze an irgendeinem offiziellen Übergang legal passiert. Weder in der Provinz noch in Paris war ein Mann dieses Namens oder unter diesem Namen in einem Hotel abgestiegen. Er stand auf keiner Liste unerwünschter Ausländer und war der französischen Polizei bisher auch nie in irgendeiner Weise unliebsam aufgefallen.
Sobald Lebel der Bericht einer Dienststelle vorlag, wies er sie telephonisch an, den Stichtag für die Überprüfung weiter und weiter zurückzuverlegen, bis man auf irgendeinen früheren Aufenthalt Calthrops in Frankreich stieß. Auf diese Weise würde sich vielleicht feststellen lassen, ob es eine von ihm bevorzugte Unterkunft gab — das Haus eines Freundes oder irgendein Hotel —, wo er sich womöglich auch jetzt unter falschem Namen verborgen hielt. Superintendent Thomas' Anruf vom gleichen Morgen hatte die Hoffnung auf eine rasche Ergreifung des Killers praktisch zunichte gemacht. Die Teilnehmer der abendlichen Lagebesprechung waren noch nicht darüber unterrichtet worden, daß sich die Verfolgung der Spur Calthrops vermutlich als Fehlschlag erweisen dürfte. Das würde er ihnen heute abend um 10 Uhr beibringen müssen. Und wenn er bis dahin keinen anderen Namen als Ersatz für Calthrop nennen konnte, hatte er neuerliche Ausfälle von seilen Saint Clairs und die stummen Vorwürfe der anderen Konferenzteilnehmer zu gewärtigen.
Es gab nur zwei Dinge, die ihm eine gewisse Genugtuung bereiteten: zum einen die Tatsache, daß sie nun Calthrops Personenbeschreibung sowie ein En-face-Photo von ihm besaßen. Zwar dürfte er seine äußere Erscheinung beträchtlich verändert haben, wenn er mit falschen Papieren reiste, aber es war immerhin besser als nichts. Und zum anderen empfand er die Tatsache als tröstlich, daß niemand in der Konferenzrunde etwas vorzuschlagen wußte, was besser gewesen wäre als das, was er tat — alles zu überprüfen und jeder Spur, die sich ergeben mochte, sofort nachzugehen. Caron hatte die Theorie entwickelt, daß Calthrop zu dem Zeitpunkt, als die britische Polizei seine Wohnung durchsuchte, möglicherweise nur deswegen nicht dagewesen sei, weil er etwas in der Stadt zu erledigen gehabt habe; daß er keinen zweiten Paß besäße; daß er untergetaucht sei und sein Vorhaben aufgegeben habe.
«In dem Fall könnten wir in der Tat von Glück reden«, hatte Lebel seufzend bemerkt und hinzugefügt:»Aber ich glaube nicht daran. Special Branch hat gemeldet, daß sich sein Wasch- und
Rasierzeug nicht im Badezimmer befand und er einer Nachbarin gegenüber erwähnte, er ginge zum Angeln nach Schottland. Wenn Calthrop seinen Paß zurückließ, dann nur, weil er ihn nicht mehr benötigte. Rechnen Sie nicht damit, daß dieser Mann allzu viele Fehler macht. Ich fange langsam an, eine Vorstellung vom Schakal zu bekommen.«
Der Mann, nach dem die Polizeibehörden zweier Länder jetzt fahndeten, hatte beschlossen, die Grande Corniche mit ihren ewigen Verkehrsstauungen links liegenzulassen und sich auch das südliche Ende der RN7 zu ersparen. Im August, das wußte er, stellten beide Straßen nur wenig gemilderte Formen der Hölle auf Erden dar.
In dem beruhigenden Bewußtsein der Sicherheit, das ihm der angenommene und in seinem Paß vermerkte Name Duggan verschaffte, entschied er sich dafür, von der Küste aus gemächlich nach Norden durch die Alpes Maritimes und weiter in die hügelige Landschaft Burgunds zu fahren. Er hatte keine sonderliche Eile, denn der für den Anschlag festgesetzte Tag war noch nicht gekommen. Auch war er etwas früher als ursprünglich geplant in Frankreich eingetroffen.
Von Cannes aus fuhr er in nördlicher Richtung nach Grasse, der malerischen Stadt betörender Düfte, und dann auf der RN 85 nach Castellane weiter, von wo aus die turbulenten Wasser des Verdon, von dem nur wenige Kilometer weiter flußaufwärts errichteten Staudamm gebändigt, aus den Savoyer Alpen zu Tal strömten, um sich bei Cadarache mit der Durance zu vereinigen.
Von hier fuhr er nach Barreme und Digne weiter. Der kochenden Hitze in der provenzalischen Ebene entronnen, atmete er die linde, erfrischende Luft der Berge in vollen Zügen. Sobald er das Tempo verlangsamte, spürte er, wie die Sonne auf ihn herabbrannte, aber bei zügigem
Fahren war der Wind wie eine kühle Brise, die den Duft der Pinien und der Holzfeuer in den Gehöften zu ihm herübertrug.
Bei Volonne fuhr er über die Durance-Brücke und aß in einem hübschen kleinen Gasthof mit Blick auf den Fluß zu Mittag. Zweihundert Kilometer stromabwärts wurde die Durance zu einem schleimiggrauen Rinnsal, das sich zwischen Cavaillon und Plan d'Orgon träge im sonnengebleichten Kies seines Bettes dahinschlängelte. Aber hier oben in der sanften Hügellandschaft war sie noch ein richtiger Fluß mit Fischen und schattigen Ufern, deren Gras ihr sein saftiges Grün verdankte.
Am Nachmittag fuhr er auf der noch immer dem Lauf der Durance folgenden RN 85 über Sisteron hinaus, bis sich die Straße gabelte und die RN 85 sich in nördlicher Richtung von der Durance entfernte. Bei Einbruch der Dämmerung erreichte er die kleine Stadt Gap. Er hätte auch nach Grenoble weiterfahren können, aber da kein Grund zur Eile bestand und die Aussichten, im Ferienmonat August ein Hotelzimmer zu bekommen, in einer kleinen Stadt günstiger waren, sah er sich nach einem ländlichen Hotel um. Knapp außerhalb des Städtchens fand er das Hötel du Cerf, welches ehedem einem der Herzöge von Savoyen als Jagdhaus gedient und sich das Air rustikaler Behaglichkeit und ländlicher Tafelfreuden bewahrt hatte.
Es waren noch Zimmer frei. Statt wie gewohnt zu duschen, nahm er zur Abwechslung ein behaglich ausgedehntes Bad und entschied sich dann für den taubengrauen Anzug, zu dem er ein seidenes Hemd und eine gestrickte Krawatte trug. Marie-Louise, das Zimmermädchen, hatte seinen karierten Anzug zum Aufbügeln mitgenommen und zugesagt, ihn anderntags in der Frühe zurückzubringen.
Das Abendessen wurde in einem holzgetäfelten Raum eingenommen, der eine panoramaartige Aussicht auf die bewaldeten Abhänge bot, die vom Schrillen der Zikaden widerhallten. Die, Luft war warm, und erst als der Hauptgang abgetragen wurde,machte eine an einem Einzeltisch speisende Dame, die ein weit j ausgeschnittenes, ärmelloses Kleid trug, den maitre d’hötel darauf aufmerksam, daß es ihr doch ein wenig kühl sei, und bat ihn, die Fenster zu schließen. Der Schakal wandte sich um, als er gefragt wurde, ob er etwas dagegen habe, wenn das Fenster, an dem er saß, zugemacht würde.
Er warf einen Blick auf die Dame. Es war eine ausgesprochen hübsche Frau. Sie mochte in den späten Dreißigern sein und hatte füllige, weiche Arme und einen tief angesetzten, vollen Busen. Mit einem flüchtigen Nicken gab er dem maitre sein Einverständnis kund und neigte dann, den Blick der hinter ihm sitzenden Frau suchend, leicht den Kopf. Sie reagierte mit einem kühlen Lächeln.
Das Essen war hervorragend. Er hatte gefleckte Bachforelle, über dem Holzfeuer gegrillt, und auf dem Kohlenfeuer gebratene, mit Fenchel und Thymian gewürzte Tournedos bestellt. Der Wein war ein vollmundiger Cötes du Rhöne aus der Gegend, der in einer Flasche ohne Etikett serviert wurde. Er war offenkundig aus einem Faß im Keller abgefüllt und vom Wirt persönlich zum vin de la maison bestimmt worden. Die meisten Gäste tranken ihn, und das mit gutem Grund.