«Also gut«, räumte Thomas ein.»Schuhe mit erhöhten Absätzen. Calthrop: Haarfarbe braun. Das besagt nicht viel, denn die kann ebensogut hellbraun wie kastanienbraun sein. Nach dem Photo zu urteilen, hat er dunkelbraunes Haar. Bei Duggan steht auch: Haar braun. Aber es sieht aus, als sei es hellblond.«
«Das stimmt, Sir. Auf Photos sieht Haar jedoch meistens dunkler aus, als es ist. Es hängt davon ab, von wo das Licht kommt und so weiter. Außerdem könnte er es heller getönt haben, um Duggan zu werden.«
«Mag sein. Calthrops Augenfarbe: braun. Duggan: Augenfarbe grau.«
«Kontaktlinsen, Sir. Kein Problem.«
«O.K., Calthrop ist siebenunddreißig, Duggan im April vierunddreißig geworden.«
«Er mußte vierunddreißig werden«, erklärte der Inspektor,»weil der echte Duggan, der kleine Junge, der mit zweieinhalb Jahren ums Leben kam, im April 1929 geboren wurde. Daran konnte nichts geändert werden. Und ein Siebenunddreißigjähriger, dessen Alter im Paß mit vierunddreißig angegeben ist, erregt keinen Verdacht. Man glaubt dem, was im Paß steht. «Thomas betrachtete die beiden Photos. Calthrops Gesicht wirkte schwerer, voller, wie das eines eher untersetzten Mannes. Aber um Duggan zu werden, konnte er sein Äußeres verändert haben. Vermutlich hatte er es bereits verändert, bevor er mit den OAS-Chefs zusammentraf, und es seither bei dem veränderten Äußeren belassen — auch während der Zeit, in der er seinen Paß beantragte. Männer wie er mußten in der Lage sein, monatelang unter der Tarnung einer zweiten Identität zu leben, wenn sie der Identifizierung entgehen wollten. Eben dieser klugen Vorsicht und gewissenhaften Sorgfalt verdankte es Calthrop vermutlich, daß sein Name in keiner Polizeiakte der Welt zu finden war. Hätte es nicht dieses Gerücht gegeben, das vor ein paar Jahren in Westindien kursierte, wäre man nie auf ihn gekommen. Abervon jetzt ab war er Duggan. Gefärbtes Haar, getönte Kontaktlinsen, schlankere Figur und überhöhte Absätze — es war Duggans Personenbeschreibung, die er nebst Paßnummer und — photo zur Übermittlung nach Paris in den Telexraum bringen ließ. Lebel würde das Material — er blickte auf seine Armbanduhr — schätzungsweise gegen 2 Uhr morgens erhalten.
«Und alles weitere ist dann deren Sache«, meinte der Inspektor.
«Irrtum, mein Junge«, klärte Thomas ihn auf,»es gibt noch eine Menge Arbeit für uns. Morgen früh fangen wir als erstes mit der Überprüfung der Fluggesellschaften, Reisebüros und Kartenverkaufsstellen für den Kanalverkehr an. Wir müssen nicht nur herausfinden, wer er jetzt ist, sondern auch, wo er jetzt ist.«
In diesem Augenblick kam der Anruf aus dem Somerset House. Der letzte Paßantrag war überprüft und in Ordnung befunden worden.
«O.K., danken Sie den Beamten des Hauses, und machen Sie Schluß. Morgen früh pünktlich um 8 Uhr 30 erwarte ich Sie alle sieben in meinem Büro«, sagte Thomas.
Ein Sergeant brachte einen Durchschlag der schriftlichen Erklärung, die der Zeitungs- und Zigarettenhändler auf seiner örtlichen Polizeiwache abgegeben hatte. Thomas überflog die beeidete Aussage, die im wesentlichen wiederholte, was der Mann dem Inspektor schon an der Wohnungstür gesagt hatte.
«Es liegt nichts gegen ihn vor, was uns dazu berechtigen könnte, ihn festzuhalten«, sagte er.»Bestellen Sie den Diensthabenden in Paddington, sie sollen ihn laufenlassen.«»Ja, Sir«, sagte der Sergeant und trat ab. Während er mit dem Sergeanten sprach, war es Donnerstag, der
15. August geworden. Thomas lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und versuchte ein wenig zu schlafen.
SECHZEHNTES KAPITEL
Madame la Baronne de la Chalonniere blieb vor ihrer Zimmertür stehen und drehte sich zu dem jungen Engländer um, der sie dorthin begleitet hatte. Im Halbdunkel des Korridors konnte sie sein Gesicht nicht genau erkennen; es war nur ein aufgehellter Fleck im Schatten.Der Abend war recht amüsant gewesen, und sie hatte sich noch nicht entschieden, ob sie ihn vor ihrer Tür beenden sollte oder nicht. Die Frage beschäftigte sie schon seit einer Stunde.
Einerseits war sie, obwohl sie Liebhaber gehabt hatte, eine achtbare verheiratete Frau; sich von wildfremden Männern verführen zu lassen, sobald sie allein in einem Hotel übernachtete, zählte nicht zu ihren Gewohnheiten. Andererseits war sie in einer Verfassung, in der sie sich Anfechtungen weniger denn je gewachsen fühlte, und ehrlich genug, sich das selbst einzugestehen.
Sie hatte den Tag in den Hochalpen in der Kadettenschule von Barcelonette verbracht, um der Abschlußparade beizuwohnen, an der ihr Sohn als frisch gebackener Unterleutnant der Chasseurs Alpins, des alten Regiments seines Vaters, teilnahm. Obschon sie ohne Zweifel die bei weitem reizvollste Mutter unter den Zuschauern der Parade gewesen war, hatte ihr die Zeremonie, bei der ihr Sohn das Offizierspatent erhielt und in die französische Armee aufgenommen wurde, fast schockartig bewußtgemacht, daß sie nahezu vierzig und Mutter eines erwachsenen Mannes war.
Obwohl sie gut und gern fünf Jahre jünger aussah und sich zuweilen zehn Jahre jünger fühlte, hatte sie die Tatsache, daß ihr Sohn zwanzig geworden war, inzwischen vermutlich mit Frauen schlief und in den Ferien nicht mehr heimkommen würde, um in den Wäldern, die das Schloß der Familie umgaben, auf die Jagd zu gehen, in Ratlosigkeit und Panik versetzt.
Sie hatte die marionettenhafte Galanterie des schnarrenden alten Obersten, der die Kadettenanstalt leitete, und die bewundernden Blicke der apfelbäckigen Klassenkameraden ihres Sohnes lächelnd erduldet und sich plötzlich sehr einsam gefühlt. Ihre Ehe, das war ihr seit Jahren klar, bestand nur noch auf dem Papier, denn der Baron lebte in Paris und war zu sehr damit beschäftigt, den kleinen Mädchen nachzustellen, als daß er den Sommer auf dem Schloß verbracht hätte oder auch nur zur Vereidigung seines Sohnes erschienen wäre. Während sie in dem schweren Tourenwagen der Familie auf dem Rückweg aus den Hautes Alpes die kurvenreiche Straße nach Gap hinunterjagte, um die Nacht in einem ländlichen Hotel zu verbringen, kam ihr erstmals voll zum Bewußtsein, daß sie hübsch, attraktiv und einsam war. Außer den Aufmerksamkeiten älterer Galane wie des Obersten in der Kadettenanstalt oder frivolen und unbefriedigenden Flirts mit kleinen Jungen hatte sie nichts mehr zu erwarten, und zu irgendeiner karitativen Tätigkeit fühlte sie sich nicht berufen — noch nicht.
Aber was Alfred in Paris trieb, während die halbe Gesellschaft über ihn und die restliche über sie lachte, war für sie eine einzige Beleidigung und Erniedrigung.
Beim Kaffee, den sie in der Hotelhalle nahm, hatte sie sich über ihre Zukunft Gedanken gemacht und unversehens den Wunsch verspürt, sich von jemandem sagen zu lassen, daß sie eine Frau sei und eine schöne dazu, und nicht bloße Madame la Baronne. In genau diesem Augenblick war es dann geschehen, daß der Engländer auf sie zutrat, um sie zu fragen, ob er, da sie allein in der Halle waren, seinen Kaffe bei ihr trinken dürfe. Er hatte sie überrumpelt, und sie war ganz einfach zu überrascht gewesen, um nein zu sagen. In der nächsten Sekunde hätte sie sich am liebsten geohrfeigt, aber schon zehn Minuten später bedauerte sie es kaum mehr, ihn nicht abgewiesen zu haben. Schließlich war er ihrer Schätzung nach zwischen dreißig und fünfunddreißig, also im denkbar besten Alter. Obschon Engländer, sprach er fließend französisch; er sah recht gut aus und konnte amüsant sein. Seine geschickten Komplimente hatten ihr wohlgetan, und sie hatte ihn sogar zu weiteren ermuntert. Es war fast Mitternacht geworden, ehe sie aufstand und erklärte, anderntags in aller Frühe aufbrechen zu müssen.
Er hatte sie die Treppe hinaufbegleitet und vor dem Fenster im Zwischenstock auf die bewaldeten Berghänge hinausgedeutet, die vom hellen Mondlicht beschienen wurden. Sie waren stehengeblieben, um einen Blick auf die schlafende Landschaft zu werfen. Als sie sich vom Fenster wegwandte, mußte sie feststellen, daß seine Augen nicht auf der Aussicht, sondern auf das tiefe Tal zwischen ihren Brüsten gerichtet waren, deren Haut im Mondlicht alabasterweiß erschien.