Er schraubte die neuen Nummernschilder an, warf die Farbtöpfe mit dem restlichen Lack sowie die beiden Pinsel fort, zog sich den seidenen Rollkragenpullover und das Jackett wieder über und ließ den Motor an. Als er in die RN 93 einbog, blickte er auf seine Uhr. Es war 15 Uhr 41.
Hoch über sich hörte er einen Hubschrauber knattern, der nach Osten flog. Bis nach Die waren es noch zwölf Kilometer. Er hätte den Namen der Ortschaft zwar nie englisch ausgesprochen, aber die Koinzidenz der Schreibweise fiel ihm doch auf. Obwohl er nicht abergläubisch war, preßte er die Lippen zusammen, als er sich dem Städtchen näherte. Vor dem Kriegerdenkmal auf dem Marktplatz stand ein baumlanger motorisierter Polizist mitten auf der Fahrbahn und signalisierte ihm, anzuhalten und scharf rechts heranzufahren. Das Gewehr des Schakals befand sich noch immer in den am Chassis befestigten Röhren. Er trug weder eine Automatic noch ein Messer. Eine Sekunde lang war er unschlüssig, ob er anhalten oder Gas geben, den Polizisten mit dem Kotflügel streifen und davonpreschen sollte, um den Wagen zwanzig Kilometer weiter stehenzulassen, sich ohne Spiegel und Waschbecken als Pastor Jensen herzurichten und mit vier Gepäckstücken zu Fuß durchzuschlagen.
Der Polizist nahm ihm die Entscheidung ab. Sobald der Alfa die Fahrt verlangsamt hatte, beachtete der Polizist ihn überhaupt nicht mehr, sondern drehte sich um und blickte in die entgegengesetzte Richtung. Der Schakal steuerte den Wagen an den Straßenrand und wartete. Vom anderen Ende des Ortes her war Sirenengeheul zu hören. Was auch immer geschehen mochte, es war zu spät, um jetzt noch zu entkommen. Vier Citroen-Polizeiwagen und sechs» Schwarze Marias «rasten durch die Ortschaft. Als der Verkehrspolizist zur Seite sprang und grüßend den Arm hob, preschte der Konvoi an dem geparkten Alfa vorbei und die Straße hinunter, die dieser gekommen war. Durch die vergitterten Fenster, die den Wagen im französischen Volksmund die Bezeichnung» Salatschleuder «eingetragen hatten, konnte der Schakal die dichtbesetzten Reihen behelmter Polizisten mit umgehängten Maschinenpistolen sitzen sehen. Fast ebenso schnell, wie er gekommen war, war der Konvoi wieder verschwunden. Der Verkehrspolizist ließ den grüßenden Arm sinken, bedeutete dem Schakal mit gleichmütiger Geste, daß er jetzt weiterfahren dürfe, und stapfte zu seinem Motorrad, das er gegen das Kriegerdenkmal gelehnt hatte. Er trat noch immer auf den Anlasser, als der Alfa bereits um die Ecke gebogen war, um seine Fahrt in Richtung Westen fortzusetzen.
Es war 16 Uhr 50, als sie sich dem umstellten Hotel du Cerf näherten. Begleiter von Caron, der einen geladenen und entsicherten MAT-49-Schnellfeuerkarabiner unter dem über seinen rechten Arm gelegten Regenmantel trug, ging Claude Lebel, der anderthalb Kilometer entfernt auf der anderen Seite des Ortes gelandet und von einem Polizeiwagen zum Hotel gefahren worden war, zum Haupteingang.
Daß irgend etwas Ungewöhnliches im Gang war, hatte sich inzwischen im ganzen Städtchen herumgesprochen; nur der Besitzer des Hotels wußte von nichts. Es war seit fünf Stunden von der Außenwelt abgeschnitten, und das Ausbleiben des Forellenverkäufers, der täglich seinen frischen Fang abzuliefern pflegte, war in diesem Zeitraum das einzig ungewöhnliche Vorkommnis gewesen.
Von seinem Empfangschef herbeigerufen, trat der Hotelbesitzer aus dem Büro, wo er über Rechnungen und Bestellungen gesessen hatte, und beantwortete Carons Fragen, während er mißtrauische Blicke auf das unförmige Bündel warf, das dieser unter dem Arm trug. Lebel hörte zu und ließ enttäuscht die Schultern hängen.
Fünf Minuten später wimmelte das Hotel von uniformierten Polizisten. Sie verhörten die Angestellten, untersuchten das Zimmer des Schakals und kehrten das Unterste zuoberst. Lebel trat allein auf die Auffahrt hinaus und starrte zu den umliegenden Berghängen hinüber. Caron gesellte sich zu ihm.
«Meinen Sie wirklich, daß er uns entwischt ist, Chef?«Lebel nickte.
«Darüber gibt es wohl keinen Zweifel.«
«Aber er hat sich doch für zwei Tage angemeldet. Halten Sie es für möglich, daß der Hotelbesitzer mit ihm unter einer Decke steckt?«
«Nein. Seine Angestellten und er sagen die Wahrheit. Der Schakal hat es sich irgendwann heute vormittag anders überlegt und Reißaus genommen. Die Frage ist, wohin er gefahren sein kann und ob er schon weiß, daß wir wissen, wer er ist.«
«Aber wie sollte er das? Das kann er doch gar nicht wissen. Es muß ein Zufall sein.«
«Hoffen wir es, mein lieber Lucien, hoffen wir es.«
«Dann ist die Autonummer das einzige, wovon wir jetzt ausgehen können.«
«Ja. Das war mein Fehler. Wir hätten eine Suchmeldung nach dem Wagen an alle Gendarmerieposten und Polizeikommissariate ergehen lassen sollen. Laufen Sie zu einem der Streifenwagen hinüber und rufen Sie Lyon. Geben Sie die Suchmeldung an alle durch. Höchste Dringlichkeitsstufe. Weißer Alfa Romeo, Italien, polizeiliches Kennzeichen MI-61741. Vorsicht, Fahrer vermutlich bewaffnet und zum Gebrauch der Schußwaffe entschlossen und so weiter und so weiter. Sie kennen ja den in solchen Fällen üblichen Text. Halt, noch eines: Niemand darf der Presse gegenüber auch nur ein Wort verlauten lassen. Erwähnen Sie in der Suchmeldung, daß der Mann vermutlich nicht ahnt, daß nach ihm gefahndet wird, und ich jeden zur Verantwortung ziehen werde, der ihm durch Nichtbefolgung dieser Anweisung die Möglichkeit verschafft, es in der Zeitung zu lesen oder im Radio zu hören. Ich werde Kommissar Gaillard vom Regionaldienst in Lyon mit der Abwicklung der Aktion beauftragen, und dann fliegen wir nach Paris zurück.«
Es war fast 18 Uhr, als der blaue Alfa Valence erreichte, wo ein unaufhörlicher Strom von Automobilen auf der Route Nationale 7, die Paris mit der Cöte d'Azur verbindet, am Ufer der Rhöne entlangschoß. Der Alfa kreuzte die große Nord-Süd-Straße und den in der Spätnachmittagssonne glitzernden breiten Fluß, um seine Fahrt auf der RN 533 fortzusetzen. Hinter St-Peray preschte der kleine Sportwagen bei sinkender Dämmerung höher und höher in die Berge des Zentralmassivs und der Provinz Auvergne hinauf. Von Le Puy ab stieg die Straße immer steiler an, wurden die Berge immer höher und schien jedes Nest ein florierender Badeort zu sein, von dessen wundertätigen Quellwassern sich Scharen mit Rheuma und Ekzemen gestrafter Großstädter Heilung erhofften.
Hinter Brioude verließ die Straße das Tal der Allier, und die Nachtluft begann nach Heide und dem trocknenden Heu auf den Wiesen des Hochlandes zu duften. In Issoire hielt der Schakal an, um zu tanken, und jagte dann über Mont-Dore nach La Bour-doule weiter. Es war fast Mitternacht, als er das Quellgebiet der Dordogne umrundete, die den Felsen der Auvergne entspringt und über ein halbes Dutzend Staudämme nach Süden und Südwesten fließt, um sich bei Bordeaux in die Gironde zu verströmen.
Hinter St-Sauves fuhr er auf der RN 89 nach Ussel, der Kreisstadt von Correze, weiter.
«Sie sind ein Narr, Kommissar, ein Narr. Sie hatten ihn schon so gut wie gefaßt, und Sie haben ihn laufenlassen. «Saint Clair hatte sich halb vom Stuhl erhoben, um seinen Vorhaltungen Nachdruck zu verleihen, und starrte wütend auf den neben ihm am unteren Ende des Konferenztisches sitzenden Kommissar hinunter. Der Detektiv fuhr fort, ungerührt in den mitgebrachten Akten zu blättern, als existiere Saint Clair für ihn überhaupt nicht.
Er hatte erkannt, daß dies die einzig richtige Art war, den arroganten Obersten aus dem Palais zu behandeln, und Saint Clair seinerseits war sich nicht sicher, ob die vorgeneigte Kopfhaltung des Kommissars geziemende Zerknirschung oder unverfrorene Gleichgültigkeit ausdrückte. Er zog es vor, das erstere anzunehmen. Als er geendet hatte und sich auf seinen Sessel zurücksinken ließ, hob Lebel den Kopf.