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Sie fragte sich, was in aller Welt sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen sollte. Nach der gemächlichen Heimfahrt von Gap war sie gestern nachmittag von der alten Ernestine, dem Hausmädchen, das bereits zu Alfreds Vaters Zeiten auf dem Schloß in Diensten stand, und dem Gärtner Louison, einem ehemaligen Bauernjungen, der Ernestine geheiratet hatte, als sie noch die Gehilfin des Hausmädchens war, begrüßt worden.

Die beiden fungierten jetzt praktisch als die Kuratoren des Schlosses, dessen Räume in der Mehrzahl verschlossen und dessen Möbel zum großen Teil mit Schonbezügen bespannt worden waren.

Sie war, darüber gab sie sich keiner Täuschung hin, die Herrin eines leeren Schlosses, in dessen Park keine Kinder mehr spielten und in dessen Hof kein Schloßherr sein Pferd mehr bestieg.

Sie betrachtete nochmals den Ausschnitt aus einem Pariser Modemagazin, den ihr eine Freundin in so rührender Weise zugeschickt hatte; sah ihren darauf abgebildeten Gatten dümmlich ins Blitzlicht lächeln, während sein leerer Blick zwischen der Kameralinse und dem aufreizenden Busen des Starletts, über dessen Schulter er blinzelte, hin und her irrte. Das Mädchen war eine zur Kabarettänzerin avancierte vormalige Bardame, die dem Vernehmen nach gesagt haben sollte, sie hoffe, den Baron, mit dem sie» sehr befreundet «sei,»eines Tages «heiraten zu können.

Während sie sich das faltige Gesicht und den dünnen Hals des alternden Barons auf dem Photo ansah, fragte sie sich, was mit dem gutaussehenden jungen Partisanenhauptmann der Resistance geschehen sein mochte, in den sie sich 1942 verliebt und den sie im Jahr darauf, als sie ein Kind — ihren Sohn — von ihm erwartete, geheiratet hatte.Als sie ihm damals in den Bergen begegnete, war sie ein junges Mädchen von noch nicht zwanzig Jahren gewesen, das für die Resistance Meldungen beförderte. Er war ein unter dem Decknamen» Pegasus «bekannter magerer, habichtgesichtiger, befehlsgewohnter Mann in den Dreißigern gewesen, der sofort ihr Herz gewann. Sie hatte sich in einem als Kapelle hergerichteten Keller von einem der Resistance angehörenden Pfarrer heimlich trauen lassen und ihren Sohn in ihrem Vaterhaus zur Welt gebracht.

Nach dem Krieg wurde ihm dann sein Vermögen und der gesamte Landbesitz wieder zugesprochen. Während des alliierten Vormarsches durch Frankreich war sein Vater einem Herzschlag erlegen, und er kehrte aus der Verbannung zurück, um Baron de la Chalonniere zu werden. Das Bauernvolk hatte ihm begeistert zugejubelt, als er seine junge Frau und seinen Sohn zu sich aufs Schloß holte. Das Leben auf den Besitzungen langweilte ihn jedoch schon bald, und die Lockungen, die Paris bereithielt, wie auch der Drang, sich für die im öden Kolonialdienst und im Untergrund verlorenen Jahre der Jugend und des frühen Mannesalters schadlos zu halten, erwiesen sich als zu stark, als daß er ihnen hätte widerstehen können.

Jetzt war er siebenundfünfzig Jahre alt und sah aus wie siebzig.

Die Baronin warf den Brief und den mitgeschickten Ausschnitt aus dem Magazin auf den Boden. Sie sprang aus dem Bett und stellte sich vor den großen Ankleidespiegel an der gegenüberliegenden Wand und zog die ihren Morgenrock vorn zusammenhaltenden Bänder auf. Dann hob sie sich auf die Zehenspitzen, um die Muskeln ihrer Schenkel so zu straffen, als trüge sie Pumps mit hohen Absätzen.

Nicht schlecht, dachte sie. Könnte jedenfalls viel schlimmer sein. Ich habe das, was man eine füllige Figur nennt — den Körper einer reifen Frau. Die Hüften waren breit, aber die Taille dank unzähliger im Sattel verbrachter Stunden und langer Spaziergänge in den Bergen glücklicherweise schlank geblieben. Sie umfaßte mit jeder Hand eine ihrer Brüste und prüfte deren Gewicht. Sie waren zu groß und zu schwer, um wirklich schön genannt zu werden, vermochten aber einen Mann im Bett durchaus noch zu erregen.

Nun, Alfred, dachte sie, was du dir erlaubst, kannst du mir nicht verbieten. Sie schüttelte den Kopf, um ihr schulterlanges Haar zu lösen, und eine Strähne fiel ihr über Wange und Brust.

Sie nahm ihre Hände vom Busen, ließ sie zwischen ihre Schenkel gleiten und dachte dabei an den Mann, den sie noch vor wenig mehr als vierundzwanzig Stunden dort gespürt hatte. Er war gut gewesen. Sie wünschte jetzt, daß sie in Gap geblieben wäre. Vielleicht hätten sie zusammen Ferien machen und unter falschem Namen im Land umherfahren können wie Liebesleute, die der bürgerlichen Ordnung ihres Lebens zu entfliehen versuchen. Wozu in aller Welt war sie nach Hause zurückgekehrt?

Vom Schloßhof her drang das Rattern eines klapprigen alten Automobils herauf. Sie band sich den Hausmantel zu und trat ans Fenster. Ein Lieferwagen aus dem Dorf stand dort unten, dessen hintere Türen geöffnet waren. Zwei Männer holten etwas aus dem Laderaum. Louison, der eine der ornamental gefaßten Rasenflächen gejätet hatte, trat hinzu, um mit anzupacken. Einer der vom Lieferwagen verdeckten Männer ging jetzt um diesen herum, kletterte auf den Fahrersitz und betätigte die knirschende Kupplung. Wer lieferte Waren aufs Schloß? Sie hatte nichts bestellt. Der Wagen setzte sich in Bewegung, und sie stieß einen Laut der Überraschung aus. Drei Koffer und eine Reisetasche waren abgeladen worden, und daneben stand ein Mann. Sie erkannte ihn an dem metallischen Glanz des blonden Haars und lächelte freudestrahlend übers ganze Gesicht.

«Du Bestie. Du schöne, primitive Bestie. Du bist mir nachgefahren.«

Sie eilte ins Badezimmer, um sich anzukleiden.

Als sie an die Treppenbrüstung trat, hörte sie von der Halle her Stimmen. Ernestine fragte, was Monsieur wünsche.

«Madame la baronne, elle est la?«

Im nächsten Augenblick kam Ernestine, so schnell ihre alten Beine sie zu tragen vermochten, die Treppe heraufgelaufen.

«Ein Herr fragt nach Ihnen, Madame.«

An jenem Freitag war die allabendliche Besprechung im Innenministerium kürzer als üblich. Zu berichten gab es einzig und allein die Tatsache, daß es nichts zu berichten gab. Im Lauf der letzten vierundzwanzig Stunden war die Beschreibung des gesuchten Wagens den Polizeidienststellen in ganz Frankreich zugeleitet worden, und zwar, um keine Spekulationen hervorzurufen, auf dem in solchen Fällen gemeinhin üblichen Weg. Der Wagen war nicht gesichtet worden. Gleichzeitig hatte jedes Regionalkommando der Police Judiciaire alle örtlichen Kommissariate in den Stadt- und Landkreisen seines Bereichs angewiesen, bis spätestens anderntags 8 Uhr morgens sämtliche Hotelanmeldeformulare ins Regionalkommando zu schaffen. Dort wurden sie umgehend überprüft. Auf keiner der nach Zehntausenden zählenden Anmeldungen tauchte der Name Duggan auf. Er konnte die letzte Nacht daher nicht in einem Hotel verbracht haben, jedenfalls nicht unter diesem Namen.

«Wir müssen von zwei Möglichkeiten ausgehen«, erklärte Lebel einer schweigenden Zuhörerschaf t.»Entweder glaubt er sich noch immer unverdächtig, und seine Abreise vom

Hotel du Cerf war eine vorher nicht geplante Handlung, mit der er dem Anlaufen unserer Aktion rein zufällig zuvorkam. Dann besteht für ihn kein Grund, nicht ungeniert in aller Öffentlichkeit seinen Alfa zu fahren und seelenruhig unter dem Namen Duggan in Hotels abzusteigen. In diesem Fall muß er früher oder später entdeckt werden. Oder aber er hat auf irgendeine Weise Wind davon bekommen, daß wir ihm auf der Spur sind, und sich entschlossen, den Wagen irgendwo stehenzulassen und sich so durchzuschlagen. Sollte das der Fall sein, gibt es wiederum zwei Möglichkeiten.

Entweder er hat keine weiteren Rollen parat, in die er schlüpfen kann; dann kommt er nicht weit, ohne sich in einem Hotel einzuschreiben oder eine Grenzstation zu passieren. Oder er hat eine weitere gefälschte Identität vorbereitet und bereits angenommen. In diesem Fall ist er nach wie vor ungemein gefährlich.«

«Was veranlaßt Sie zu glauben, daß er eine weitere Identität parat haben könnte?«fragte Oberst Rolland.