«Gefühl!«mokierte sich Saint Clair.»Einen bestimmten Tag! Kommissar, Sie lesen offenbar zu viele romantische Abenteuergeschichten. Aber wir haben es nicht mit der Romantik zu tun, sondern mit der Wirklichkeit. Der Mann hat sich aus dem Staub gemacht, mehr gibt es darüber nicht zu sagen. «Er lehnte sich im Sessel zurück und lächelte selbstgewiß.»Hoffentlich haben Sie recht«, sagte Lebel leise.»In diesem Fall darf ich Sie, Monsieur le Ministre, bitten, mich von der Leitung der Ermittlungen zu entbinden und wieder meine normalen kriminalpolizeilichen Obliegenheiten wahrnehmen zu lassen.«
Der Minister sah ihn unschlüssig an.
«Glauben Sie, es hat Sinn, die Ermittlungen fortzusetzen, Kommissar?«fragte er.»Besteht Ihrer Meinung nach noch immer Gefahr?«
«Was die zweite Frage anlangt, so kann ich darauf nur sagen: Ich weiß es nicht. Hinsichtlich der ersten bin ich der Meinung, daß wir mit den Nachforschungen so lange fortfahren sollten, bis wir unserer Sache absolut sicher sind.«
«Also gut. Meine Herren, ich wünsche, daß der Kommissar seine Ermittlungen fortsetzt und wir weiterhin jeden Abend zusammenkommen, um uns von ihm laufend berichten zu lassen — vorerst jedenfalls noch.«
Auf der Jagd nach schädlichem Getier verfolgte Marcange Mallet am Morgen des 20. August als Wildhüter der zwischen Egletons und Ussel im Departement Correze gelegenen Waldungen seines Arbeitgebers eine angeschossene Waldtaube, die in ein dichtes Rhododendrongebüsch gefallen war. In der Mitte des Gebüschs fand er die Waldtaube, die flügelschlagend auf dem Fahrersitz eines Sportwagens hockte, der offenkundig verlassen worden war.
Zunächst hatte er, während er dem Vogel den Hals umdrehte, angenommen, daß der Wagen von einem Liebespaar abgestellt worden war, das entgegen dem Verbotsschild, welches er am achthundert Meter entfernten Eingang zum Forst angenagelt hatte, im Wald picknicken wollte. Dann stellte er jedoch fest, daß einige von den Zweigen, die den Wagen vor der Sicht verbargen, in den Boden hineingesteckt waren. Bei näherer Untersuchung entdeckte er an anderen Rhododendronbüschen, die in der unmittelbaren Umgebung des Fundorts wuchsen, die Stümpfe, von denen die Äste abgeschnitten worden waren. Er mußte scharf hinschauen, um sie zu sehen, denn die weißen Schnittflächen waren sorgfältig mit Erde beschmiert worden, damit sie nicht auffielen.
Dem Vogeldreck auf den Sitzen nach zu urteilen, mußte der Wagen zumindest schon seit ein paar Tagen dort gestanden haben. Der Wildhüter packte die Taube und sein Gewehr, radelte durch den Wald zu seinem Häuschen zurück und nahm sich vor, auf seinem Gang ins Dorf, wo er im Laufe des späteren Vormittags ein paar weitere Kaninchenfallen besorgen wollte, den Gendarmen auf den Wagen hinzuweisen.
Es war fast Mittag, als der Dorfgendarm die Kurbel des in seinem Haus installierten Diensttelephons drehte und an das Kommissariat in Ussel einen mündlichen Bericht des Inhalts durchgab, daß im nahen Wald ein herrenloser Wagen gefunden worden sei. Ob es ein weißer Wagen sei, wurde er befragt. Nein, es war ein blauer Wagen. War es ein italienischer Wagen? Nein, er trug französische Kennzeichen, Fabrikat unbekannt. Gut, sagte die Stimme in Ussel, im Laufe des Nachmittags werde man einen Abschleppwagen schicken. Er möge sich bereithalten, um die Leute an die Fundstätte zu führen, denn gerade jetzt, wo es wegen der Suche nach dem weißen italienischen Sportwagen, die auf Weisung der hohen Herren in Paris im Gang war, so viel Arbeit gab, wurde jeder einzelne Mann dringend gebraucht. Der Dorfgendarm versprach, zur Stelle zu sein, wenn der Abschleppwagen eintraf.
Es war später als 4 Uhr nachmittags geworden, bevor der kleine Wagen auf den Hof des Kommissariats geschleppt wurde, und fast 5 Uhr, ehe einem Autoschlosser der Fahrbereitschaft bei der zur Identifikation vorgenommenen Überprüfung des Wagens auffiel, wie miserabel er lackiert war. Er nahm einen Schraubenzieher und kratzte an der Farbschicht eines Kotflügels. Unter dem Blau erschien ein weißer Streifen. Stutzig geworden, begann er die Nummernschilder zu untersuchen und stellte fest, daß sie offenbar umgedreht worden waren. Wenige Minuten später lag das abgeschraubte vordere Schild auf dem Hof. Die nach oben gekehrte Rückseite zeigte in weißen Lettern die Aufschrift MI-61741, und der Mann von der Fahrbereitschaft rannte zur Wachstube.
Claude Lebel erhielt die Nachricht kurz vor 18 Uhr. Sie kam von Kommissar Valentin vom Regionalkommando der PJ in Clermont-Ferrand, der Hauptstadt der Provinz Auvergne. Lebel war förmlich zusammengefahren, als Valentin zu berichten begann.
«Hören Sie, das ist eminent wichtig. Ich kann Ihnen jetzt nicht erklären warum, sondern nur wiederholen, daß es wichtig ist. Ja, ich weiß, es widerspricht den Vorschriften, aber in diesem Fall liegen die Dinge nun einmal so. Daß Sie regulärer Kommissar sind, weiß ich, mein Bester. Wenn Sie sich meine Befugnis in dieser Sache bestätigen lassen wollen, kann ich Sie sofort mit dem Generaldirektor der PJ verbinden. Also, ich möchte, daß Sie umgehend ein Team nach Ussel 'runterschicken. Die besten Leute, die Sie zusammentrommeln können, und davon so viele wie nur irgend möglich. Beginnen Sie mit den Nachforschungen an dem Punkt, wo der Wagen aufgefunden wurde. Schlagen Sie auf Ihrer Karte einen Kreis um diesen Punkt und bereiten Sie alles für eine planmäßige Durchkämmung des Geländes vor. Befragen Sie jeden Bauern, der regelmäßig die Straße nach Ussel befährt, und holen Sie in jedem Dorfgeschäft, jedem Cafe und in jeder Holzarbeiterhütte Erkundigungen ein.
Ihre Leute suchen einen hochgewachsenen, schlanken Mann, einen gebürtigen Engländer, der aber ausgezeichnet französisch spricht. Er trug drei Koffer und eine Reisetasche. Er hat eine Menge Geld bei sich und ist gut gekleidet, aber es wird ihm vermutlich anzusehen sein, daß er im Freien genächtigt hat.
Ihre Leute sollen fragen, wo er gesehen wurde, wohin er von dort aus gegangen ist, was er kaufen wollte. Oh, und noch etwas — die Presse muß unter allen Umständen ausgeschlossen werden. Was soll das heißen, das geht nicht? Aber natürlich werden die örtlichen Lokalreporter wissen wollen, was los ist. Nun, dann sagen Sie ihnen doch einfach, es sei ein Autounfall passiert, und man glaube, daß einer der Insassen im Schockzustand in der Gegend umherirre. Ja, eine großangelegte Hilfsaktion, meinetwegen. Von mir aus können Sie ihnen sagen, was Sie wollen — Hauptsache, Sie machen sie nicht mißtrauisch. Sagen Sie ihnen auch, daß es jetzt in der Ferienzeit mit über fünfhundert Verkehrsunfällen pro Tag bestimmt keine Story für die oberregionalen Blätter sei. Spielen Sie die Sache herunter, das ist die Hauptsache. Und noch etwas — wenn Sie den Mann irgendwo aufspüren, stellen Sie ihn nur ja nicht. Kreisen Sie ihn lediglich ein und passen Sie auf, daß er nicht entwischt. Ich komme so schnell zu Ihnen 'runter, wie ich kann.«
Lebel legte den Hörer auf und wandte sich an Caron.
«Lassen Sie sich mit dem Minister verbinden und bitten Sie ihn, die Besprechung auf acht Uhr vorzuverlegen.
Ich weiß, das ist die Essenszeit, aber es wird nicht lange dauern. Rufen Sie anschließend in Satory an und lassen Sie den Hubschrauber startklar machen. Diesmal für einen Nachtflug nach Ussel. Und sie sollen uns auf jeden Fall sagen, wo sie zu landen gedenken, damit wir einen Wagen dorthin bestellen können, der mich abholt. Sie werden inzwischen allein hier weitermachen müssen.«
Bei Sonnenuntergang errichteten die motorisierten Polizeieinheiten aus Clermont-Ferrand, verstärkt durch eine Reihe weiterer Einsatzwagen, die Ussel zur Verfügung gestellt hatte, ihr mobiles Hauptquartier auf dem Dorfplatz einer kleinen Ortschaft, die in unmittelbarer Nähe des Waldes lag, in welchem der Wagen aufgefunden worden war. Vom Funkwagen aus gab Valentin Anweisungen an die unzähligen Polizeiautos, die sich in den anderen Dörfern der Umgegend sammelten. Er hatte beschlossen, mit einem Radius von acht Kilometer im Umkreis des Ortes, an dem der Wagen entdeckt wurde, zu beginnen und die Nacht durchzuarbeiten. In den Stunden der Dunkelheit war die Chance, die Leute zu Hause anzutreffen, viel größer. Andererseits bestand durchaus die Möglichkeit, daß sich seine Männer in den unübersichtlichen Tälern und auf den Bergabhängen der Gegend verirrten oder irgendeine Holzfällerbude übersahen, in der sich der Flüchtige versteckt haben mochte. Erschwerend kam ein weiterer Faktor hinzu, den er Paris am Telephon kaum hatte verständlich machen können, auf den er Lebel jedoch — was ihm alles andere als angenehm war — mündlich würde hinweisen müssen. Ohne sein Wissen sollten einige seiner Leute diesen Faktor noch vor Mitternacht zu spüren bekommen. Sie befragten einen Bauern auf dessen etwa drei Kilometer von der Fundstelle des Wagens entfernten Hof.