Sie beschloß, Louison zu konsultieren. Er müßte jetzt auf dem Marktplatz angelangt sein, und jemand aus dem Cafe würde gehen und ihn ans Telephon holen. Sie wußte nicht, wie der Apparat funktionierte; sie glaubte, wenn man den Hörer aufnahm, müsse sich jemand melden und die gewünschte Person ans Telephon holen. Aber es war alles Unsinn. Sie hielt den Hörer zehn Minuten lang an ihr Ohr, ohne daß jemand das Wort an sie richtete. Daß die Schnur dort, wo sie die Scheuerleiste der Bibliothek berührte, säuberlich durchgeschnitten war, entging ihrer Aufmerksamkeit.
Gleich nach dem Frühstück flog Claude Lebel im Hubschrauber nach Paris zurück. Wie er Caron später berichtete, hatte Valentin trotz der Behinderung durch die Sturheit der Bauern ausgezeichnete Arbeit geleistet. Gegen 8 Uhr war die Spur des Schakals bereits bis zu einem Cafe verfolgt, wo dieser gefrühstückt hatte, und Valentin suchte nach dem Fahrer eines Taxis, das telephonisch bestellt worden war. In der Zwischenzeit hatte er die Errichtung von Straßensperren in einem Umkreis von zwanzig Kilometer rund um Egletons angeordnet, und bis Mittag würden sie an Ort und Stelle gebracht und das Gebiet abgeriegelt sein.
Valentins Umsicht und Tatkraft hatten Lebel bewogen, ihm immerhin anzudeuten, wieviel von der Ergreifung des Schakals abhing, und Valentin hatte sich seinerseits bereit erklärt, einen Ring um Egletons zu legen, der nach seinen eigenen Worten» so festgeschlossen wie das Arschloch einer Maus «war.
Von Haute Chalonniere aus jagte der Renault in südlicher Richtung durchs Gebirge auf Tülle zu. Der Schakal schätzte, daß die Polizei, wenn sie seit gestern abend im ständig erweiterten Umkreis der Stelle, wo der Alfa gefunden worden war, Ermittlungen durchführte, bei Einbruch der Dämmerung Egletons erreicht haben mußte. Der Mann hinter der Theke würde reden, der Taxifahrer ebenfalls und das Schloß spätestens am Nachmittag umstellt sein, sofern sich das nicht durch irgendwelche unvorhergesehenen Umstände verzögerte.
Aber selbst dann würden sie nach einem blonden Engländer suchen, denn er hatte sorgfältig darauf geachtet, daß ihn niemand als grauhaarigen Pastor zu Gesicht bekam. Dennoch würde er ihnen diesmal nur mit knapper Not entkommen. Er jagte den kleinen Wagen in halsbrecherischem Tempo über die gebirgigen Nebenstraßen und traf schließlich achtzehn Kilometer südwestlich von Egletons auf die RN 8 nach Tülle, wohin es noch zwanzig Klimmeter waren. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr: es war zwanzig Minuten vor zehn.
Als er am Ende einer langen Geraden hinter einer Biegung verschwand, kam ein kleiner Polizeikonvoi von Egletons her die Straße heruntergebraust. Der Konvoi stoppte mitten auf der geraden Strecke, und sechs Polizisten begannen eine Straßensperre zu errichten.
«Was heißt: >Er ist unterwegs<?«schnauzte Valentin die weinende Frau des Taxifahrers in Egletons an.»Wohin ist er gefahren?«
«Ich weiß nicht, Monsieur. Ich weiß es nicht. Er wartet jeden Morgen am Bahnhofsplatz auf den Zug aus Ussel. Wenn niemand aussteigt, kommt er hierher zurück und geht in die Werkstatt, um mit den Reparaturarbeiten weiterzumachen. Wenn er nicht zurückkommt, heißt das, daß er einen Fahrgast hat.«
Valentin blickte mißmutig drein. Es hatte keinen Sinn, die Frau anzuschreien. Es war ein EinMann-Taxibetrieb, den ein Bursche leitete, der nebenher auch Autoreparaturen ausführte.
«Hat er am Freitagmorgen irgend jemanden gefahren?«fragte er in ruhigerem Tonfall.
«Ja, Monsieur. Er ist vom Bahnhof zurückgekommen, weil dort niemand war, und dann kam ein Anruf aus dem Cafe, daß jemand ein Taxi bestellen wollte. Er hatte gerade ein Rad abgenommen und befürchtete, daß der Kunde inzwischen weggehen und ein anderes Taxi nehmen könnte. Deswegen hat er während der ganzen zwanzig Minuten, die es dauerte, bis das Rad wieder dran war, in einem fort geflucht. Dann ist er losgefahren. Er hat den Kunden abgeholt, aber mir nicht gesagt, wohin er mit ihm gefahren ist. Er redet nicht viel mit mir«, fügte sie erklärend hinzu.
Valentin tätschelte ihr die Schulter.
«Schon gut, Madame. Regen Sie sich nicht auf. Wir warten, bis er zurückkommt. «Er wandte sich an einen der Sergeanten.»Schicken Sie einen Mann zum Bahnhof und einen weiteren zum Cafe gegenüber. Die Nummer von dem Taxi haben Sie. Sobald er auftaucht, will ich ihn sprechen — umgehend.«
Er verließ die Werkstatt und bestieg seinen Wagen.
«Zum Kommissariat«, sagte er. Das Hauptquartier der an der Fahndung beteiligten Einheiten war auf seine Veranlassung in die Polizeiwache von Egletons verlegt worden, die seit Menschengedenken nicht mehr soviel Betriebsamkeit gesehen hatte.
Zehn Kilometer außerhalb Tulles warf der Schakal den Koffer mit seinen englischen Kleidungsstücken und dem Paß Alexander Duggans in eine Schlucht. Der Koffer segelte über das Brückengeländer und verschwand krachend im dichten Unterholz am Fuß des Wasserfalls.
Nach kurzem Suchen hatte er den Bahnhof von Tülle gefunden und parkte den Wagen drei Straßen weiter an unauffälliger Stelle. Er trug seine beiden Koffer und die Reisetasche zum achthundert Meter entfernten Bahnhofsgebäude und trat an den Fahrkartenschalter.
«Einmal zweiter Paris, bitte«, sagte er und blickte über den Rand seiner Brille hinweg durch das kleine Gitterfenster, hinter dem der Bahnangestellte saß.»Wieviel macht das?«»Siebenundneunzig Neue Franc, Monsieur.«
«Und wann, bitte, geht der nächste Zug?«
«Um 11 Uhr 50. Sie haben fast eine Stunde Zeit. Es gibt ein Restaurant am Ende des Bahnsteigs. Bahnsteig eins nach Paris, je vous en prie.«
Der Schakal nahm sein Gepäck auf und begab sich zur Sperre. Die Karte wurde gelocht, er ergriff wiederum seine Koffer und trat auf den Bahnsteig. Eine blaue Uniform versperrte ihm den Weg.
«Vospapiers, s'ilvousplatt.«
Der Mann vom CRS war sehr jung und gab sich alle Mühe, gestrenger dreinzublicken, als seine Jahre es ihm erlaubten. Er trug einen Schnellfeuerkarabiner, dessen Riemen er über die Schulter gehängt hatte. Der Schakal setzte nochmals sein Gepäck ab und zeigte den dänischen Paß vor. Der CRS-Mann blätterte ihn durch, ohne auch nur ein Wort lesen zu können.
«Vous etes Danois?«
«Pardon?«
«Vous… Danois?« Er tippte auf den Paß.
Der Schakal strahlte und nickte hocherfreut.
«Danske… ja, ja.«
Der CRS-Mann reichte ihm den Paß zurück und deutete mit einem Kopfnicken zum Bahnsteig. Ohne sich noch weiter für den dänischen Geistlichen zu interessieren, wandte er sich dem nächsten Reisenden zu, der durch die Sperre trat.
Es war fast 13 Uhr, als Louison zurückkam. Er hatte zwei Glas Wein getrunken, vielleicht auch drei. Seine Frau empfing ihn mit einer aufgeregten Schilderung dessen, was in seiner Abwesenheit geschehen war. Louison nahm die Sache in die Hand.
«Ich werde zum Fenster hinaufklettern«, kündigte er an,»und nachsehen.«
Zunächst einmal hatte er Schwierigkeiten mit der Leiter. Sie neigte sich hartnäckig in jede andere als die von Louison erstrebte Richtung. Aber schließlich ließ sie sich doch unterhalb des Schlafzimmerfensters der Baronin gegen das Mauerwerk lehnen, und Louison begann seinen schwankenden Aufstieg zur obersten Sprosse. Fünf Minuten später kletterte er wieder hinunter.
«Madame la Baronne schläft«, verkündete er.
«Aber sie schläft doch sonst nie so lange«, protestierte Ernestine.
«Nun, dann tut sie es eben heute«, entgegnete Louison.»Man darf sie nicht stören.«
Der Zug nach Paris hatte leichte Verspätung. Er lief um 12 Uhr ein. Unter den Reisenden, die ihn bestiegen, befand sich ein grauhaariger protestantischer Geistlicher. Er setzte sich auf einen Fensterplatz in einem Abteil, in dem sich nur zwei ältere Frauen befanden, putzte seine goldgeränderte Brille, holte ein großformatiges Buch über französische Kathedralen aus seiner Reisetasche und begann zu lesen. Wie er aus dem im Bahnhof ausgehängten Fahrplan ersehen hatte, würde der Zug um 20 Uhr 10 in Paris eintreffen.